Um die Zeit, als mein Opa starb, hatte ich einen Traum.
Ich weiß nicht mehr, ob es ein Traum in tiefem Schlaf war, an den ich mich nach dem Aufwachen erinnerte, oder einer jener Wachträume, die mich in den frühen Morgenstunden manchmal aufsuchen, aus einem Gedanken geschlüpft und zu einer Szene verwandelt.
Sicher ist nur, dass dieser Traum sehr klar war und sehr einprägend, das Bild scharf, die Farben hell und sonnig, die Luft warm und trocken; es roch nach Heu. Das war vor mehr als 24 Jahren, und noch immer kann ich den Traum jederzeit abrufen und alles wieder vor mir sehen.
Eine unbefestigte Landstraße, fast eher ein Weg, zwischen Wiesen und Feldern. Ich bin dort, auf der sandigen Straße, und blicke über das ebene Land in die Ferne, wo sich die Straße zwischen Bäumen verliert. Ich kann nicht erkennen, ob es ein Wald ist, ob diese Bäume vielleicht ein Dorf schützen oder ein Gehöft. Eines aber weiß ich genau: Dort hinten, irgendwo hinter den Bäumen, ist der Fluss, der hier so großen Einfluss auf das Leben hat. Opa Walter ist bei mir, ein alter Mann von 87 Jahren, dessen Lebenskräfte langsam schwinden. Meine Anwesenheit dort auf dem Weg ist seltsam körperlos; ich scheine aus der Zeit gefallen zu sein in eine Welt, die nicht die meine ist. Und auch meinen Opa nehme ich mehr wahr, als dass ich ihn sehe.
Doch dann ist der alte Herr plötzlich weg, und statt seiner steht ein Junge neben mir. Er ist vielleicht acht oder neun Jahre alt. Sein kurzes Haar fällt über der Stirn in einer leichten Welle nach hinten. Er trägt kurze braune Hosen und feste Schuhe. Ich wundere mich nicht darüber, dass Walter wieder jung ist. Im Gegenteil, es ist ganz natürlich, dass es diesen Jungen, den ich von einem alten Schwarzweiß-Foto kenne, noch immer gibt. Es ist ein warmer Tag, die Sonne scheint, am Himmel ist kein Wölkchen zu sehen. Der Junge schaut zu mir auf, ein verschmitztes, zufriedenes Lausbubengesicht. „Ich gehe jetzt nach Hause“, sagt er und lächelt mich an. „Sie warten schon auf mich.“ Seine Augen strahlen. „Leb wohl.“
Dann rennt er los, die staubige Straße entlang; immer schneller tragen ihn seine Beine davon, bis er zwischen den Bäumen verschwindet. Ich wache auf und weiß, dass er jetzt zuhause ist. In dem alten Bauernhaus mit dem Kachelofen auf dem großen Hof nahe der Warthe. Bei seiner Mutter Emma, die so sehr an ihm hängt. Bei seinem großen Bruder Fritz, der ihn zum Arbeiten in die Ställe und auf die Felder schickt. Und bei Reinhold, seinem Vater, der so oft nicht zu Hause ist, auf geheimnisvollen Reisen oder – wie in der Familie erzählt wird – in Berlin, als Abgeordneter im Reichstag. Doch dazu später mehr.
Ich hatte den Traum im Sommer 1999. Heute weiß ich nicht mehr, war es wenige Tage, bevor Opa Walter starb oder kurz danach. Aber das Bild dieses schnurgeraden Weges, der weiten Felder und der Bäume in der Ferne ist erstaunlich deutlich. Fast, als wäre es nicht nur ein Traum gewesen, sondern eine Erinnerung.
Ich habe niemals Fotos von Striche Hauland gesehen
Mein Opa ist in Striche Hauland aufgewachsen, einem aus verstreuten Gehöften bestehenden Dorf in einer Landschaft, die einst polnisch war und dann lange Zeit zu Preußen gehörte. Seine Eltern hatten dort einen großen Bauernhof. Als er am 18. April 1912 geboren wurde, lebten die Vorfahren seiner Mutter schon seit über hundert Jahren dort.
Ich habe niemals Fotos von Striche Hauland gesehen. Ein Teil der Familie ist gegen Ende des Zweiten Weltkrieges geflohen, mein Opa war in russischer Kriegsgefangenschaft und seine Eltern wurden – so wurde berichtet – von russischen Soldaten erschossen. Die wenigen Fotos, die es in die neue Heimat geschafft haben, zeigen die Familie, keines jedoch den Hof oder die Landschaft. Der Opa hat viel erzählt von früher, und so entstanden natürlich Bilder in meinem Kopf. Ob sie stimmten, wusste ich nicht.
Ein Abschied im Sommer
Im Sommer 1999, es muss im Juli gewesen sein, kam mein Opa überraschend ins Krankenhaus, und wir dachten, es gehe mit ihm zu Ende. Meine Familie lebte in Remscheid im Bergischen Land, ich wohnte in Münster. Damals arbeitete ich als Redakteurin bei den Westfälischen Nachrichten und war in jenen Tagen in der Redaktion Sendenhorst im Einsatz. Dank meiner netten und verständnisvollen Kollegen konnte ich mir, als der Anruf aus Remscheid kam, sofort frei nehmen und losfahren.
Ich erinnere mich noch genau an die Fahrt, es gab zum Glück keinen Stau auf der Autobahn. Die Sonne schien, und ich dachte, jetzt sehe ich den Opa gleich vielleicht zum letzten Mal. Von Münster nach Remscheid sind es etwa 120 Kilometer. Gegen Mittag war ich da. Ich besuchte meinen Opa, hielt seine Hand, sprach mit ihm und fuhr irgendwann spät am Nachmittag zurück.
Überraschend erholte er sich so weit, dass er aus dem Krankenhaus entlassen wurde. Am 18. August, meinem 33. Geburtstag, rief er mich früh am Morgen an. Er war der erste, der mir an dem Tag gratulierte. Fünf Tage später, wieder im Krankenhaus, starb er. Am Abend des 22. August wollte er nicht ins Bett gehen. Er blieb am Tisch sitzen, als meine Oma nach Hause ging. Vielleicht dachte er nach, vielleicht nahm er Abschied, bevor er sich schlafen legte. Er wachte nicht mehr auf.
Ich hatte noch nie den Eindruck, dass meine Träume in die Zukunft weisen. Das ist schön, denn so kann ich sie mit Abstand betrachten, sie erschreckend oder wirr finden oder über sie lachen. Und mich dann von ihnen lösen. Dieser Traum aber gab mir Ruhe und milderte die Traurigkeit: Walter war wieder zuhause bei den Seinen, auf dem Fleckchen Erde, das ihm Heimat war. Bei den Menschen, die ihm einst am nächsten standen.
13 Bauerngehöfte, eine Gastwirtschaft und zwei Zollhäuser
Striche Hauland ist ein Dorf an der Warthe. Sie macht dort eine Biegung. Das Land meiner Urgroßeltern reichte bis an den Fluss heran. An der Stelle verläuft die Warthe ziemlich genau nach Norden. Nach dem Ersten Weltkrieg musste Deutschland einen großen Teil der westpreußischen Gebiete an Polen abtreten. So kam es, dass genau dort, wo meine Familie lebte, die Grenze dem Flusslauf folgte.
„Das waren 13 Bauerngehöfe, eine Gastwirtschaft und zwei Zollhäuser“ erinnerte sich Opa Walter an sein Dorf. „Die Zollhäuser mussten nach 1920 erbaut werden, weil die Warthe ungefähr sechs Kilometer international war. Also da ging die Grenze genau in der Mitte der Warthe.“
Und wie groß war der Hof seiner Familie? „50 Hektar hatten wir so ungefähr“, sagte Opa Walter. „Davon waren 30 Hektar unterm Pflug. Und das andere war Wald und Wiese. Wir hatten so kleine Wäldereien noch dabei.“ Ich saß mit meinen Großeltern in deren Esszimmer in Remscheid-Lennep vor einem Kassettenrecorder. Damit uns ihre Erinnerungen erhalten bleiben, nahm ich ein Interview mit ihnen auf. Ihre Stimmen, ihre Art zu reden – all das ist noch da, mittlerweile längst digitalisiert und nun für mich eine wunderbare Erinnerung. Das Gespräch war am 20. Juni 1998. Mein Opa hatte noch 14 Monate zu leben.
„Schönen Wald“, ergänzte Oma Hilde, die mit ihren beiden kleinen Söhnen einen ganzen Sommer lang in Striche Hauland gewesen war und das Land dort gut kannte. Damals, als der Opa im Krieg war und sie kein richtiges Zuhause mehr hatte, verbrachte sie viel Zeit bei ihren Eltern in Pommern und bei den Schwiegereltern in der Grenzmark Posen Westpreußen.
Wie Pinkus meinen Papa rettete
Einmal ist mein Vater, damals ein Kerlchen von vielleicht drei, vier Jahren, in Striche Hauland ausgebüxt und in einen Wassergraben gefallen. Meine Urgroßeltern hatten einen kleinen, schwarz-weiß gefleckten Hund namens Pinkus. Der rannte nun bellend zum Haus und machte so einen Radau, dass jemand mit ihm mitkam, um nachzusehen, was passiert war. Und da lag Kurtchen im Wasser und kam nicht mehr heraus. Pinkus habe ihm das Leben gerettet, hat der Papa mir später erzählt.
Viel, viel später bekam mein Opa von seinen Kindern einen Dackel geschenkt, es war zum 60. Geburtstag. Dieser wurde nach dem Hofhund Pinkus genannt und hatte ein langes, schönes Leben. Es war Opas letzter Hund. Danach wollte er keinen mehr.
Ein Land mit wechselvoller Vergangenheit
Sonntag, 24. September 2023. Ralf und ich haben uns auf den Weg gemacht, sind über Stettin und Gorzów Wielkopolski (früher Landsberg an der Warthe) in die Woiwodschaft Großpolen gefahren, das alte polnische Kernland, in dem über Jahrhunderte sowohl Polen als auch Deutsche lebten. Bis zur zweiten polnischen Teilung 1793 war das Gebiet polnisches Territorium, danach gehörte es zu Preußen. Das Land hatte eine wechselvolle Geschichte. Los ging es mit dem slawischen Stamm der Polanen, die im 9. und 10. Jahrhundert dort siedelten. Dessen Fürsten, die Piasten, gründeten Ende des 10. Jahrhunderts das erste polnische Königreich, das aber schon im 12. Jahrhundert durch Erbteilung in Teilherzogtümer zerlegt wurde.
Die Geschichte der Hauländereien
Etwa seit dem 16. Jahrhundert kamen auf Einladung der Landesherren deutsche und niederländische Siedler in die polnischen und litauischen Gebiete des damaligen Großreiches Polen-Litauen. Ihre Aufgabe war es, das Land zu roden und sumpfige Gebiete trockenzulegen. Dafür zahlten sie zunächst nichts und hatten später nicht so hohe Abgaben, außerdem erhielten sie das Erbrecht auf ihr Land. Das waren weit bessere Bedingungen als die der einheimischen Bauern, die ihrem Herrn Frondienste leisten mussten und jederzeit von ihrem Land vertrieben werden konnten. Diese besonderen Dörfer nannte man Hauländereien, und sie bekamen oft den Namenszusatz Hauland. Als Kind fand ich den Dorfnamen Striche Hauland immer seltsam. Aber niemand hat mir erklärt, woher er kam.
Es ist nicht klar, ob das Wort „Hauland“ von „Holländer“ abgeleitet ist oder sich darauf bezieht, dass die Siedler erst mal die Wälder abhauen mussten. Typisch für diese Art der Besiedelung war, dass jeder Siedler das Land rund um den Hof, auf dem er lebte, urbar machte. So entstanden keine geschlossenen Ortschaften, sondern flächenmäßig große Dörfer mit weit auseinanderliegenden Gehöften. Eine Darstellung dieser Besiedelungstaktik und dazu eine sehr aufschlussreiche Zeichnung eines typischen Hauländerhofes findet sich ein einem Artikel auf der Seite des Heimatkreises Meseritz. Interessant vor allem deshalb, weil der Hof meiner Urgroßeltern fast genauso aussah.
Im 17. Jahrhundert wurden große Teile des Landes erst durch die Kriege mit Schweden verwüstet und dann von der Pest heimgesucht. Viele Dörfer lagen brach, das Land war wüst und leer. Also wurden wieder Verträge mit Siedlern geschlossen, die oft aus Brandenburg, Schlesien oder Pommern kamen. Sie durften im katholischen Polen ihren meist protestantischen Glauben ausüben. Am westlichen Rand von Großpolen, also in der Gegend, in der mein Opa aufwuchs, war die deutschsprachige Bevölkerung in der Überzahl. Anders sah es weiter östlich aus, dort gab es mehr polnischsprachige Menschen.
Mittlerweile habe ich meine Familie in der Gegend auf ancestry bis etwa in die Mitte des 18. Jahrhunderts zurückverfolgt. Vielleicht finde ich irgendwann noch heraus, woher die Vorfahren ursprünglich kamen. Spannend ist es auf jeden Fall.
Reise an einen Ort voll fremder Erinnerungen
Nur 300 Kilometer sind es von Wolgast nach Stryszewo, jenem kleinen Ort irgendwo im Nirgendwo, der für mich so voller fremder Erinnerungen steckt. Und auch voller Geheimnisse. So lange schon wollte ich dorthin, und nun sind wir endlich da an diesem Sonntagnachmittag im September. Stryszewo, so heißt Striche Hauland heute. Früher, im Kalten Krieg, war es für mich weiter weg als Australien. Als wir die Abzweigung erreichen, an der ein grünes Schild den Weg weist, halten wir an. Ich steige aus und laufe ein Stück in Richtung Dorf.
Die Luft ist warm, und es duftet nach Heu. Schnurgerade verläuft die schmale Straße zwischen Wiesen und Feldern. Ich blicke über das ebene Land in die Ferne, wo sich die Straße zwischen Bäumen verliert. Weil ich die Landkarte angesehen habe, weiß ich, dass dort hinten sich Striche Hauland an die Warthe schmiegt. Ich erkenne den Weg sofort. Es gibt nur einen Unterschied: Er ist nicht mehr sandig, sondern wurde irgendwann asphaltiert. Fast kann ich sehen, wie der kleine Walter nach Hause läuft.
Wie findet man ein Haus, von dem man nicht weiß, wo es ist und ob es überhaupt noch steht?
Wie findet man nun ein Haus, von dem man nicht genau weiß, ob es überhaupt noch steht? Die Oma hat erzählt, die Russen hätten den Hof niedergebrannt. Aber Papas Cousin Reiner sagte, das stimme nicht. Reiners ältere Schwestern haben als Kinder noch dort gelebt, und Reiner, der erst nach dem Krieg geboren ist, war mal dort. Er schickte mir eine Landkarte und erklärte mir, wie man fahren muss, um den Hof zu finden. Ich machte mir eine Skizze. Nun hatte ich also die Karte und die Skizze und ein Bild, das Oma Hilde einst aus dem Gedächtnis gemalt hatte – Walters Elternhaus in Striche Hauland. Weil es kein Foto gab und die Kinder doch wissen sollten, wie es dort aussah.
Wir halten uns an die Skizze und folgen der Straße, vorbei an weit auseinanderliegenden Gehöften bis in einen Bereich, der ganz entfernt an einen Ortskern erinnert – hier stehen ein paar Häuser ein wenig näher zusammen. Und dann entdecken wir ein Stück abseits der Straße, dort, wo der Weg weiter zur Warthe führt, zwischen Bäumen und Wiesen den Vierseitenhof. Die Gebäude aus rotem Backstein, wie auf Omas Bild.
Von der Straße führt ein unbefestigter Weg über eine Wiese zu dem Gehöft. Als wir unseren Bus auf der Wiese abstellen, kommt eine Familie mit Hunden den Weg vom Fluss her, geht an uns vorbei und verschwindet auf dem Hof. Wir steigen aus und folgen ihnen. Der Hof ist eingezäunt. Die Hunde kommen sofort an den Zaun und machen einen Riesenradau.
Von dort, wo wir stehen, können wir das Wohnhaus sehen. Es ist eindeutig Walters Elternhaus. Die Veranda, die Fenster, die Nebengebäude – alles passt. Ein Fenster ist inzwischen zugemauert, aber noch zu erkennen. Den Brunnen, den Oma Hilde gemalt hatte, gibt es nicht mehr und auch die Hundehütte nicht. Aber der Rest ist da. Die Gebäude stehen ein wenig weiter auseinander als auf dem Bild, der Platz zwischen ihnen ist jetzt eher eine ungepflegte Wiese, aber das sind schon alle Unterschiede. Das muss man erst mal schaffen, einen Hof viele Jahre später so gut aus dem Gedächtnis zu malen!
1998 zeigte die Oma mir auf dem Bild, wo der Schweinestall war, wo der Kuhstall und wo die Scheune. Dass die Knechte ihre Kammern über dem Hühnerstall hatten und wo sich unten im Haus die Milchkammer befand. In welchem Zimmer der Opa geschlafen hat.
„Von dem Tag an, an dem ich laufen konnte, musste ich arbeiten auf dem Hof“
Ob er sich noch gut an alles erinnern könne, fragte ich ihn. „Ja selbstverständlich. Ich hab‘ ja gearbeitet auf dem Hof – von dem Tag an, an dem ich laufen konnte, musste ich arbeiten auf dem Hof. Also, ich hab ja mit den Ochsen Mist fahren müssen. Wie ich noch zur Schule ging und nach Hause kam, dann lag schon ein Zettel aufm Tisch, heute, Walter, spannste die Ochsen an, und dann machste das und das. Oder es lag’n Zettel drauf, heute spannste die Pferde an, und dann tuste da und da pflügen und da und da eggen und so weiter. Und das war schon von meinem Bruder. Mein Vater war ja damals dann schon in seinen Nebenämtern beschäftigt.“
Tatsächlich war es wohl so, dass Opas elf Jahre älterer Bruder Fritz den Hof schon als sehr junger Mann leitete, weil der Vater andere Wege ging. Mein Urgroßvater war Deichhauptmann und wohl ab 1921 auch Ortsvorsteher, so eine Art Bürgermeister, in Striche Hauland. Außerdem waren meine Großeltern und ihre Kinder davon überzeugt, dass er in den Zwanziger Jahren Abgeordneter im Reichstag und im Preußischen Landtag und deshalb nur selten zu Hause war. Nur stimmt das nicht. Ich habe mir die Mitgliederverzeichnisse sämtlicher Legislaturperioden angesehen. Ein Wilhelm Reinhold Pilz taucht dort nicht auf. Leider habe ich noch nicht herausgefunden, was er statt dessen gemacht hat. Ein interessanter Mensch war er auf jeden Fall, und ich möchte seine Geschichte irgendwann noch erzählen.
„Die Leute, die hier gewohnt haben, sind gestorben, aber es gibt noch Nachkommen in Berlin“
Die Hunde laufen am Tor hin und her und bellen uns an, dass einem angst und bange werden kann. Jetzt bin ich dankbar für Tor und Zaun. Die Familie kommt aus dem Wohnhaus, um nachzusehen, was los ist. Es sind Eltern mit einem erwachsenen Sohn und einer Tochter, die etwas jünger als der Sohn aussieht. Der junge Mann spricht einigermaßen Englisch, ich ein wenig Polnisch, und so erkläre ich, warum wir uns für den Hof interessieren und zeige auf meinem Handy das Foto von Oma Hildes Bild. Anders als Ralf und ich sind sich Vater und Sohn nicht sicher, dass wir das richtige Haus gefunden hatten. „Schaut mal“, sagt der Sohn. „Hier auf dem Bild ist ein Brunnen. Aber wir haben gar keinen Brunnen.“ Na ja, wozu auch. Als die Wasserleitungen kamen, hat man viele Brunnen aufgegeben.
Die Mutter bietet an, ihre Mutter zu fragen, die sich gut auskenne. Sie nimmt mein Handy mit ins Haus und kommt nach einer kleinen Weile zurück. „Meine Mutter sagt, das kann auch ein anderer Hof sein.“ Sie zeigen uns die Stelle auf Google Maps. Wir fahren später hin und schauen nach. Der andere Hof ist es auf keinen Fall. Sondern eindeutig der, den wir hier gefunden haben. Striche Hauland Nummer 12.
„Vor ein paar Jahren waren schon mal Leute hier“, sagt der junge Mann. „Deren Familie hat hier gelebt. Die Leute, die hier gewohnt haben, sind gestorben, aber es gibt noch Nachkommen in Berlin.“ Das passt ebenfalls. Opas Cousine Anneliese, die Tochter seines Bruders Fritz, lebte nach dem Krieg in West-Berlin. Sie hatte noch eine Schwester in Ostberlin, Erika hieß die. Anneliese habe ich früher mal kennengelernt, die war sehr nett. Aber viel Kontakt gab es nicht.
Zwei Kachelöfen für ein ganzes Haus
Schade, dass wir nicht ins Haus hinein können. Wir fragen auch nicht. Ich finde es nicht gut, anderen Menschen zu nahe zu treten und sich in deren Privatsphäre hineinzudrängen. Zumal bei den Bewohnern der ehemals deutschen Anwesen in Polen noch immer ein gewisses Misstrauen mitschwingt. Ist dort vielleicht jemand, der Ansprüche erhebt, der das Haus wiederhaben möchte? Als Ralf und ich 2010 zum ersten Mal in Podewils in Hinterpommern nach dem Haus von Oma Hildes Familie gesucht haben, haben wir das sehr stark zu spüren bekommen. Die Leute in Striche Hauland sind da schon viel aufgeschlossener und freundlicher.
„Wir hatten im ganzen Haus zwei Kachelöfen. Die waren so hoch“, zeigte Opa Walter mit der Hand, „der eine in dem Zimmer, der war vielleicht so zwei Meter hoch. Und ’n Meter fuffzich breit.“ Die Kacheln seien blau gemustert gewesen. „Das waren ganz verzierte Kacheln. Da waren so Ornamente drin, und dann war da oben drauf so – weißte, so Silber und Gold und was weiß ich, was die alles da hatten. Weißte, das hieß früher gute Stube. Und in der guten Stube, kann ich mir erinnern, da hatten wir damals den Ofen und oben drauf war alles so vergittert, weißte, da war alles so vergoldet und versilbert. Das waren Staubfänger.“ Er lachte.
Er sagte wirklich „mir erinnern“ statt „mich erinnern“. Mein Papa hat immer darüber geschmunzelt. Es sei typisch für den Dialekt aus Opas Heimat, dass Dativ und Akkusativ vertauscht wurden. Wenn der Opa so richtig in Fahrt kam, sagte er zum Beispiel auch: „Das will ich Sie sagen“, anstatt „Das will ich Ihnen sagen“. Es lag nicht daran, dass er es nicht besser wusste, sondern war eben einfach die Sprache seiner Kindheit. Es war auch eine ganz spezielle Satzmelodie. Ich war daran gewöhnt. Aber ich kannte damals keinen anderen Menschen, der redete wie Opa Walter. Die jüngere Generation aus Striche Hauland, seine Nichten, die dort nur als Kinder gelebt hatten, nahmen die Sprache ihrer neuen Wohnorte viel stärker an als er. Anneliese klang wie die Berliner, bei Brigitte hörte man das Chemnitzer Sächsisch.
Der Herd diente gleichzeitig zum Heizen
„Kam da Holz oder Kohle rein?“, fragte ich Opa nach den Kachelöfen.
„Da konntest du alles heizen mit. Wir hatten einen Ofen im Wohnzimmer, der heizte das Wohnzimmer und auch Schlafzimmer, und der wurde von der Küche aus geheizt, weißte? Du konntest ihn auch separat heizen. Wir hatten ja’n Herd, der Herd war so vielleicht drei Meter im Durchmesser, so breit, du konntest da rumgehen, um den Herd.“ Er zeichnete mit dem Finger auf der Tischdecke, wie es ausgesehen hatte damals seinem Elternhaus. „Da, mitten in der Küche stand der Herd.“ Dieser war durch einen Übergang mit dem Ofen im Wohnzimmer verbunden, so dass man nicht komplett um den Herd herumgehen konnte. „Und wenn du da denn jetzt den Schieber aufmachtest, dann ging die Hitze vom Herd nicht durch den Schornstein raus, sondern ging denn in den Ofen rein. Und vom Ofen raus in den Schornstein.“
Ob es die alten Öfen wohl noch gibt? Solche Kachelöfen sind doch heute richtige Schmuckstücke. Was hat sich überhaupt erhalten von meiner Familie, dort in dem Haus in Striche Hauland? Ich frage den jungen Mann, ob sie irgendetwas gefunden haben auf dem Dachboden oder anderswo, Fotos, Briefe oder Ähnliches. Er verneint. Aber wer weiß, wer schon alles dort gewohnt hat seit 1945.
Volles Haus – und eine Familienlegende über Emmas Kochkünste
Zu Opas Zeiten war es auf dem Hof ganz schön voll. Außer der Familie selbst lebten dort meist noch zwei Wirtschaftseleven. Das waren junge Männer, die die Landwirtschaft lernten und danach wieder gingen. Außerdem gab es Knechte und Mägde. „Eine Zeit lang hatten wir auch ’ne Haustochter“ erzählte Opa Walter. „Die sollte den Haushalt lernen. Die kam von Berlin oder, glaub‘ ich, von Spandau, ich weiß nicht, wo sie da beheimatet war. Die hat denn bei uns zwei Jahre so was gemacht. Die war so vierzehn, fuffzehn Jahre. Was man bei uns heute so Praktikum nennt, weißte, das war die Haustochter.“
Meine Urgroßmutter, Emma Ottilie, hatte alle Hände voll zu tun, all die Menschen zu versorgen. Einen beträchtlichen Teil ihres Alltags machte wohl das Kochen aus. Und dafür hatte sie ein Händchen. „Die konnte einmalig kochen, das sag‘ ich dir“, erzählte Oma Hilde. Und fügte gleich eine der Familienlegenden an: „Die hat ja auch in dem größten, vornehmsten Hotel in Berlin kochen gelernt. In dem feinen Hotel Adlon. Ihr Vater wollte das so. Sie sollte ja auch was Gutes heiraten.“ Eine schöne Geschichte. Und eine, die garantiert nicht stimmt. Denn das Hotel Adlon eröffnete 1907. Meine Urgroßeltern haben aber schon 1900 geheiratet. Da war Emma Ottilie 23 Jahre alt. Wo auch immer sie kochen gelernt hat, ob in Berlin oder anderswo, im Hotel Adlon war es nicht.
Ich weiß jetzt, was der Opa sein Leben lang vermisst hat
Die Septembertage, die Ralf und ich in Striche Hauland verbringen, sind warm und sonnig. Die Landschaft dort an der Warthe ist wunderschön. Ich weiß jetzt, was der Opa sein Leben lang vermisst hat. Ich habe ihn, nachdem der Kalte Krieg zu Ende war und das Reisen leichter wurde, einmal gefragt, ob er nicht in seine alte Heimat fahren möchte. Darauf erhielt ich eine sehr eindeutige und bestimmte Antwort. „Nein. Ich will das alles nicht mehr sehen. Ich will es lieber in Erinnerung behalten.“
Ich dagegen wollte es unbedingt sehen. Dieser Ort, die ganze Landschaft, ist ein Teil des Puzzles, das insgesamt mein Leben ausmacht. Denn die Vergangenheit, die Menschen von früher und die Landschaften, die sie prägten, die Art, wie sie ihr Leben gestalteten, die Möglichkeiten, die sie hatten, und die Zufälle und Ereignisse, die auf sie einwirkten, bilden schließlich die Basis dafür, dass wir überhaupt da sind und wie wir heute leben können. Ich möchte nicht, dass sie vergessen werden, nur weil sie in keinem Geschichtsbuch stehen.
Die Geschichte unserer Reise zur Heimat meiner Familie in Striche Hauland ist noch nicht zu Ende erzählt. Deshalb gibt es dazu demnächst noch mehr – für alle, die Lust haben, mich auf die Reise in die Vergangenheit zu begleiten.
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