Zwischen den Jahren

Weihnachten ist vorbei. Das neue Jahr hat noch nicht angefangen. Ein klein wenig scheint die Welt stillzustehen in diesen Tagen. Wir erwarten nichts mehr vom alten Jahr. Also verweilen wir, haben vielleicht sogar frei und Zeit, uns auf das zu besinnen, was war. Und über das nachzudenken, was da wohl kommen wird.

Ralf und ich heute Nachmittag beim Silvesterglühwein. Wir wünschen Euch allen ein frohes und gesundes Jahr 2023 mit vielen erfüllten Wünschen.

Einer meiner früheren Chefredakteure sagte mal, dass ihm der Ausdruck „zwischen den Jahren“ sehr gefalle. Ich schließe mich dem an. Es ist eine wundervolle Formulierung für eine Zeit, die irgendwie keine ist. Für einige wenige besondere und stille Tage, in denen ich mir gerne vorstelle, dass die Welt kurz anhält, um dann, sobald das Neujahrsläuten um Mitternacht vorbei ist, am 1. Januar wieder loszulegen.

Innehalten, eine Pause machen

Als ich noch als Zeitungsredakteurin gearbeitet habe, hatte ich in dieser Zeit selten Urlaub. Oft habe ich auch an einem oder beiden Weihnachtstagen gearbeitet. Da war nicht viel mit Ruhe und Besinnung. Trotzdem war die Stimmung eine besondere.

Natürlich steht die Welt nicht still. Alles geht weiter. Das Schlimme wie das Gute. Es geht nicht darum, sich davon abzuwenden. Sondern einfach ums Innehalten, eine Pause machen.

Silvester war einst großartig

Früher war der Jahreswechsel für mich etwas Großartiges. Ein neues Jahr, da konnte so viel passieren. Ich konnte so viel erleben, lernen, entdecken! In meiner Kindheit und Jugend habe ich mit Feuereifer Silvester gefeiert und mich auf das kommende Jahr gefreut. Es würde gut werden, auf jeden Fall!

Zuhause, in der Elisabethstraße in Remscheid, kamen Silvester um Mitternacht immer fast alle Nachbarn auf die Straße. Wir wünschten uns gegenseitig ein schönes neues Jahr und machten Feuerwerk.

Da die Straße am Hang liegt, sind die Haustüren dort nicht ebenerdig. Zu unserer Tür führte ein Podest mit acht Treppenstufen, oben umgeben von einem Geländer. Mein Papa befestigte eine Sonne an eben diesem Geländer und zündete sie an. Wie schön das aussah, wenn die Funken herumwirbelten! Die Silvesternacht hatte ihren ganz eigenen Zauber. Genau wie die Weihnachtszeit, über die ich in einem früheren Beitrag geschrieben habe.

Umdrehungen bei Lutz

Später verbrachte ich diesen Abend oft mit Klassenkameraden und Freunden. Ich erinnere mich noch genau an eine Silvesterfeier bei meinem Mitschüler Lutz. Wir waren eine ganze Clique von Leuten, die meisten oder vielleicht auch alle aus meiner Klasse. Es war eine fröhliche Party, die Getränke hatten ein paar Umdrehungen. Damals waren gruselige Drinks in – blauer Engel, grüne Wiese, Bacardi-Cola, Batida Orange. Wahrscheinlich war mir am nächsten Tag schlecht. Aber diese Erinnerung hat sich zum Glück verflüchtigt.

Wir saßen in Lutz‘ Zimmer auf dem Teppich und auf allen verfügbaren Polstermöbeln, stapelten uns dann für eine halbe Stunde im Wohnzimmer und guckten „Dinner for one“, liefen um Mitternacht hinaus und zündeten Böller. Danach fuhren wir mit dem Aufzug ganz nach oben – Lutz wohnte in einem Hochhaus – und schauten uns von dort aus das Feuerwerk über Remscheid an.

Wirklich respektabel alt

Und dann kam mir plötzlich der Gedanke mit dem Alter. Jetzt gerade hatte das Jahr angefangen, in dem ich wirklich respektabel alt werden würde! Das musste ich sofort den anderen verkünden. „Dieses Jahr werde ich siebzehn“, schrie ich begeistert meiner Freundin Angelika ins Ohr. „Nicht zu fassen, oder?“ Siebzehn – das fühlt sich fast schon an wie zwanzig. Also unglaublich erwachsen.

Diese kleine Erinnerung ist doch wirklich hinterhältig. Ausgerechnet in diesem Jahr schleicht sie sich am Silvestertag wieder an und grinst mir frech ins Gesicht. „Ich hab‘ Jubiläum“, flüstert sie mir zu. Leider hat sie Recht. Die Party bei Lutz ist heute genau 40 Jahre her. Was aus Lutz geworden ist, weiß ich nicht. Auch Angelika habe ich seit Jahrzehnten aus den Augen verloren. Dennoch sehe ich diese Szenen vor mir, als wären seitdem höchstens fünf Jahre vergangen.

Der 141. Geburtstag – und noch immer trinkfest

Dinner for one“ gehört bei mir noch immer zu den in Stein gemeißelten Silvesterritualen. Nur ganz selten habe ich es mal nicht gesehen – etwa damals, als ich zum Jahreswechsel in San Sebastian auf La Gomera war. Das war irgendwann in den Neunzigern. Da konnte man noch keine Sendungen übers Internet gucken.

Meine Eltern hatten früher alljährlichen Spaß mit Miss Sophie und James. Und ich auch. Miss Sophie ist die älteste Frau der Welt. Da können all die greisen Japanerinnen einpacken. Miss Sophie feiert nachher zum 51. Mal ihren 90. Geburtstag im deutschen Fernsehen. Selbst wenn wir mal unberücksichtigt lassen, dass der Sketch aus den 20-er Jahren stammt und Freddy Frinton ihn schon 1945 in England aufgeführt hat – nach der deutschen Fernsehrechnung ist Miss Sophie also inzwischen 141 Jahre alt. Und immer noch trinkfest.

Dinner for friends and family

Obwohl – so furchtbar trinkfest muss sie bei ihrem Dinner gar nicht sein. Wir haben es ausprobiert. Zweimal haben Ralf und ich am Silvesterabend das Dinner for one nachgekocht und mit den dazugehörigen Getränken serviert. Einmal Anfang der Zweitausender in unserer ersten gemeinsamen Wohnung in Hamburg für Freunde und etwa zehn Jahre später noch mal hier in Wolgast für unsere vier Eltern. Es waren lustige Abende. Dabei haben wir zwei Dinge festgestellt:

1. Miss Sophies Adelsgeschlecht ist verarmt, aber der Weinkeller ist wohl noch recht gut gefüllt. Das Essen selber kostet jedenfalls nicht viel. Außerdem ist vom ganzen Hauspersonal ja auch nur noch das Multitalent James übrig geblieben.

2. Wenn man nicht wie James für fünf Gäste trinken muss, ist der Spaß gut verträglich.

Einfach mal selber kochen und Getränke testen 🙂

Für alle, die mal Lust drauf haben, das Menü geht so:

  • Mullygatawny (das ist eine Curry-Reis-Suppe, ich habe dafür ein Rezept aus Singapur), dazu Sherry
  • Nordsee-Schellfisch (der ist heute etwas teurer als damals, und man bekommt ihn auch nicht überall. Lässt sich aber vorbestellen), dazu Weißwein
  • Hühnchen, dazu Champagner bzw. Sekt
  • Obst und Portwein

In Sachen Beilagen ist Kreativität gefragt, und das Obst darf gern zum Obstsalat mutieren. Auf jeden Fall macht so ein Silvesterabend richtig Spaß.

Lachen ist willkommen

Alles, was uns zum Lachen bringt, ist uns in diesen Tagen willkommen. Gestern Abend zum Beispiel. Da lief recht spät auf ARD der Silvesterspaß „Kurzschluss“ mit Anke Engelke und Matthias Brandt. Genau unser Humor. Wir haben herzhaft und laut gelacht.

Das Zurückschauen auf das gerade vergehende Jahr ist leider in vielem nicht erfreulich. Da sind die Katastrophen, die uns alle betreffen. Allem voran dieser entsetzliche Krieg in der Ukraine. Und da sind die Ereignisse unseres persönlichen Lebens. In unserer klein gewordenen Familie gab es 2022 nichts Schlimmes. Darüber freuen wir uns. Aber drumherum bricht vieles auseinander. Da ist der alte Freund, der nach einer Hirnblutung kaum sprechen und schreiben, sich also nicht mehr mitteilen kann. Obwohl er alles mitbekommt und versteht. Eine Freundin hat den Kampf gegen den Krebs verloren. Da sind andere, die sich gegen Krankheiten wehren. Und solche, die im falschen Leben stecken und verzweifelt nach Glück suchen.

Vieles ist jetzt nicht mehr selbstverständlich

Da nähern wir uns dem Grund, warum der Jahreswechsel für mich heute kein Fest mehr ist. Er passiert einfach, und die Zukunft bringt hoffentlich viel Gutes. Aber wir haben ein Alter erreicht, in dem vieles eben nicht mehr selbstverständlich ist. Über Gesundheit habe ich mir früher nicht viele Gedanken gemacht. Und die Wahrscheinlichkeit, dass die Menschen, die ich gern hatte, auch am Ende des beginnenden Jahres noch da sein würden, war früher groß. Heute sind viele schon weg. Und wir selber werden immer mehr zu den Leuten, die ich vor 30, 40 Jahren als echt alt bezeichnet hätte.

Zukunft? Auf jeden Fall!

Trotz dieser dunklen Gedanken freue ich mich auf die Zukunft. Egal, welches Jahr wir nun schreiben. Ralf und ich haben Pläne und Wünsche. Ich lerne noch immer dazu. Derzeit sind Schwedisch, Klavierspielen und Singen meine Haupt-Lernprojekte. Es gibt noch eine Menge zu tun und zu entdecken. Meine Wünsche für die kommende Zeit: Der Krieg soll aufhören. Die Menschen, auch diejenigen, die politisch noch in der Gedankenwelt der 80-er-Jahre stecken, sollen endlich Vernunft annehmen und tatkräftig gegen den Klimawandel vorgehen. Und Ralf und ich und alle, die wir lieben und gern haben, mögen gesund bleiben und ihr Glück finden.

Gleich gucke ich „Dinner for one“!

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Warteschleife

Mein Blog hat in der Warteschleife gesteckt. Monatelang. Im vorigen Winter hatte ich eine Handvoll Ideen zu Themen, über die ich schreiben wollte. Doch dann ist sechs Tage vor Heiligabend meine Mutter gestorben. Sie hatte Krebs, und es war nach allen Behandlungen und Untersuchungen klar, dass es keine Chance auf Heilung gab.

Doch auch wenn man solche Tatsachen mit Logik und Sachlichkeit begreifen kann, hilft es doch nicht, wenn dann die Zeit gekommen ist. Es war ein langsames Sterben, und trotz der guten Palliativversorgung hatte die Mama zwischendurch schlimme Schmerzen. Ich habe bei ihr gesessen, ihr Märchen vorgelesen, wie sie einst mir, die alten Lieder gesungen, Gitarre gespielt, Erinnerungen aufleben lassen. Es tat weh.

Mamas Bruder kam aus dem Emsland angefahren. Wir nahmen Abschied. Danach, in der Nacht, gingen wir ans Meer. Das Pflegeheim, in dem meine Mutter wohnte, liegt nur wenige hundert Meter vom Strand entfernt. Schwarze Wolken zogen über den dunklen Himmel. Schaumkronen schimmerten im Mondlicht. Ein kalter Wind wehte.

In jedem Meer der Welt

Mein Vater war da. Er ist überall, in jedem Meer der Welt. Das kann man spüren, wenn man einen Menschen in der See bestattet hat. Der Papa ist knapp zwei Jahre früher gestorben, und seitdem fehlt er. Jetzt fehlen beide. Da bleibt ein großes Glück, diese liebevollen Eltern gehabt zu haben, das warme Elternhaus, so viele tolle Chancen und Möglichkeiten für mein Leben. Und es bleibt als neuer Grundton in meinem Leben die Traurigkeit über den Verlust dieser beiden Menschen.

Damals habe ich meine Blog-Themen in die Warteschleife gelegt. Warteschleifen sind geduldig, sie bewahren klaglos das, was man reinstopft. Wenn es sein muss, jahrelang. Statt dessen habe ich die Trauerrede für die Mama geschrieben. Meine Mutter hatte vor Jahren, als wir gemütlich bei meinen Eltern im Wohnzimmer saßen, gesagt, sie wolle einst im Wald begraben werden. Diesen Wunsch haben wir ihr erfüllt.

Friedwald

Zu Besuch bei Mama – die Sonne spielt in den Baumkronen.

Nun liegt ihre Urne unter einem Ahorn inmitten vieler Buchen im Friedwald auf der Insel Usedom. Es ist ein schöner Ort, an dem es raschelt und zwitschert und der Wind nicht selten in den Baumkronen rauscht. Als sie beerdigt wurde, lag Schnee. Im Frühjahr kam helles Grün. Im Sommer tanzten die Sonnenstrahlen durch das Blätterdach. Wann auch immer ich an ihr Grab komme – es ist immer schön dort. Seit der Beerdigung ist meine Mutter in jedem Wald, so wie mein Vater in jedem Meer.

Eigentlich wollte ich mich ein paar Wochen sammeln und dann im Blog etwas über die Mama erzählen, genau so, wie ich zwei Jahre vorher über meinen Vater geschrieben habe. Doch als der Ukraine-Krieg begann, erschienen mir alle meine Gedanken nichtig im Vergleich mit dem Grauen, das den Menschen dort angetan wird. Wie kann man dem gewaltsamen Sterben, der Zerstörung, der Angst und dem Horror in diesem so nahen Krieg mit Alltagsgedanken und Alltagstrauer begegnen?

Funktionsmodus

Nun sind die meisten Menschen in der Lage, sich an den Schrecken zu gewöhnen und trotz allem in einen mehr oder weniger normalen Funktionsmodus umzuschalten. Für meinen Mann Ralf und mich kamen mit dem Frühling und dem Sommer arbeitsreiche Monate. Motorboot- und Segelkurse gingen wieder los, die Boote mussten bereit gemacht und ins Wasser gebracht werden, auch im Büro war jede Menge zu tun.

Glückliche Momente

Sonnenuntergang in Kloster, Insel Hiddensee

Und wir hatten tatsächlich einen schönen Sommer mit vielen glücklichen Momenten. Sogar ein Segelurlaub war möglich, und so sind wir im Juni über Stralsund, Hiddensee und Rügen nach Bornholm gesegelt und haben einige wunderbare Tage auf dieser schönen Insel verbracht. Es war eine im Großen und Ganzen normale Saison. Außer arbeiten und segeln, essen und schlafen geht da nicht viel.

Unbedingt sehenswert: die Festung Hammershus im Norden Bornholms
Rundum nur Wasser! Segeln ist eine faszinierende Art zu reisen.

Doch nun sind fast alle Boote an Land. Die letzten Kurse beginnen an diesem Wochenende. Und da schiebt sich jetzt nachdrücklich die bisher so geduldige Warteschleife in den Vordergrund. Darin befinden sich neben den Blog-Themen auch eine Menge anderer Projekte, Pläne und außerdem Papierstapel, die dringend mal abgearbeitet werden müssten.

Trotz allem hatte der Sommer für uns schöne Momente.

Also los! Papierstapel können warten. Aber das Schreiben nicht mehr. Wir wissen nicht, was die nächsten Monate bringen werden. Aber ich hoffe, dass ich jetzt wieder öfter die Ruhe finde, diesen Blog und meine anderen Projekte mit Leben zu füllen. Die Warteschleife bekommt garantiert auch immer wieder Nachschub.

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Lebensmitte, vielleicht

Dunkel zieht die Zeit vorbei,
Stunde um Stunde, Tag um Tag
in diesem Winter.
Da war einst der Frühling
voller Farbe und Leben, das Licht wuchs heran.

Dann der Sommer, reif und warm und so hell,
so angefüllt mit Freude, mit purer Lebendigkeit,
als ob er nie zu Ende ginge.

Bunt kam der Herbst,
prall, noch einmal fröhlich mit seinen satten Farben.
Bis die Farben verblassten und die letzte Wärme floh.

Und nun eben dieser Winter.
Er bringt mehr Tod als die Winter davor, mehr Traurigkeit.
Er macht das Vergängliche spürbarer, als seine Ahnen es taten.

Doch wir wollen ihn nicht gewinnen lassen,
noch sind wir da und stark genug,
um fröhlich zu sein und den nächsten Gast zu begrüßen.

Mit einem Schimmer von Glück in unseren Herzen
heißen wir ihn willkommen,
den Frühling, den neuen,
mit seinem wunderbaren Wachstum
von Leben, Licht und Freude.

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Kann man eine Landschaft erben?

Ein paar Gedanken über das Leben in Pommern – und warum es für mich etwas Besonderes ist

Endlich Frühling! Hier in Pommern lässt er sich ja immer ein bisschen mehr Zeit, aber in diesem Jahr kam er besonders spät. Die meisten Tulpen auf unserem Balkon sind erfroren, bevor sie blühen konnten. Ständig wehte ein kalter Wind. Erst jetzt, im Mai, sind die Bäume richtig grün geworden. Der Raps blüht. Die wärmeren Tage werden mehr. Plötzlich ist die Landschaft voller Farben. Zu dieser Zeit gehört es für mich zu den schönsten Erlebnissen, durch Wald und Feld zu laufen, nie weit vom Wasser weg, und immer wieder neue Aussichten zu genießen. Natürlich bin ich auch sehr gern auf dem Wasser unterwegs – aber genau so wichtig sind mir die Streifzüge durch die Landschaft. Mit diesem Pommern, dem „Land am Meer“ – das bedeutet der Name wörtlich übersetzt – hat es für mich etwas Seltsames auf sich.

Ein Frühling, in dem sich Sonne und Regen abwechseln – mit wunderbaren Farben.

Ich spüre eine starke Verbundenheit mit dieser Landschaft. Sie lässt in mir etwas anklingen, das andere Menschen vielleicht Heimatgefühl nennen würden. Ich meine damit Menschen, die wirklich ein solches Gefühl für ihre Heimat empfinden. Aber Pommern ist ja gar nicht meine Heimat. Aufgewachsen bin ich im Bergischen Land, hunderte Kilometer südwestlich von hier, eben ganz weit im Westen der alten Bundesrepublik. Das Bergische Land ist mir natürlich vertraut, doch ein Heimatgefühl im engeren Sinne habe ich dafür nie gehabt. Woher also stammt die Bindung an eine Landschaft, in die ich doch nur zugereist bin?

Einsame Alleen, endlose Felder. Und dazu dieser…
… wunderbare weite Himmel. Und immer wieder…
… Wasser. Hier der Blick von der Peenebrücke in Wolgast.

Da hat es früher andere Landschaften und Städte gegeben; ich habe in Bonn gelebt, in Münster, in Hamburg, in der Altmark. Doch wie gut ich all diese Regionen auch kennengelernt habe, wie gern ich auch dort war – eine tiefere Beziehung dazu habe ich nicht. Eigentlich war ich immer auf der Suche.

Meine Empfindung war immer die Heimatlosigkeit

Ich gehöre zu der in den vergangenen Jahren viel untersuchten und beschriebenen Generation der Kriegsenkel, und da gibt es ja eine ganze Reihe von Erscheinungen, Defiziten und lange unverarbeiteten Empfindungen. Meine war immer die Heimatlosigkeit. Das Nirgendwohingehören als Basis für ein ganzes Leben. Damit meine ich nicht, dass es keine Menschen gibt, zu denen ich gehöre. Die gibt es sehr wohl, ich bin bei liebevollen Eltern aufgewachsen, ich habe einen wunderbaren Mann und liebe Verwandte und Freunde. Aber den einen Ort, an dem meine Wurzeln liegen, habe ich nicht.

Jetzt also Pommern. Seit ich mit Anfang 20 von zuhause ausgezogen bin, habe ich in keiner Region so lange gelebt wie hier. Es sind jetzt schon über zehn Jahre, und ich habe nicht das Bedürfnis, woandershin zu gehen. Dabei wollte ich, als ich jung war, immer in der Großstadt wohnen. Kein Gedanke, aufs Land zu ziehen. Um Himmels willen! Hätte mir das einer vor 30 Jahren vorgeschlagen, hätte ich ihn wohl ausgelacht. Wie kommt es nun, dass mich diese sanften Hügel, die riesigen Felder, die Wälder, das Wasser und der weite Himmel so berühren? Kann man eine Landschaft erben? Von Generationen, die man selber nie kennengelernt hat?

Mein Vater ist im März 1940 in Kolberg geboren. Seine ersten Lebensjahre verbrachte er zu einem großen Teil im Haus seiner Großeltern mütterlicherseits im Dorf Podewils in Hinterpommern, etwa 50 Kilometer von Kolberg entfernt. Die Familie Bielitzki war groß; meine Urgroßeltern hatten sieben Kinder, und jeder spielte ein Instrument. Alle zusammen waren sie die „Kapelle Edelweiß“ und traten – die Jungs lustigerweise in Lederhosen – auf vielen Festen in den Dörfern der Gegend auf. Bevor mein Urgroßvater als Obermelker auf dem Gut Podewils anfing, lebte die Familie im Dorf Mersin bei Köslin, noch ein Stück weiter östlich.

Macht offenbar Spaß: Mein Papa trommelt am Schlagzeug der Kapelle Edelweiß.

Sehnsucht nach dem „versunkenen Land“

Meine Großeltern haben viel erzählt, und ich habe viel gefragt. Ich weiß, dass mich das von anderen Kriegsenkeln unterscheidet, in deren Familien geschwiegen wurde. Oft beharrlich geschwiegen. Bei Oma Hilde und Opa Walter nicht. Ich bin aufgewachsen mit Geschichten aus Pommern und auch aus der früheren Grenzmark Posen-Westpreußen an der Warthe, aus der mein Opa stammt. Als Kind und Jugendliche hatte ich Sehnsucht nach diesen Orten. Ich wollte sie sehen und wissen, wie sich das Leben dort anfühlte. Doch das ging nicht, sie lagen im versunkenen Land. So habe ich das für mich im Stillen genannt. Das „versunkene Land“, das es nicht mehr gibt und wo man auch nicht hinfahren kann. Versunken im Strom der Geschichte.

Astrid Lindgren schreibt in ihren Kindheitserinnerungen vom „entschwundenen Land“, vom „Pferdezeitalter“, von einer Zeit, die vergangen ist und dabei das Land und das Leben, wie es damals war, mitgenommen hat. Das trifft natürlich auch für das Land und Leben meiner Urgroßeltern und die Jugend meiner Großeltern zu. In das Leben von damals kann man nicht zurückkehren, man kann es sich aber vorstellen. Wer einen Eindruck von Astrid Lindgrens „versunkenem Land“ bekommen will, konnte und kann jederzeit nach Småland fahren und sich Landschaft und Häuser ansehen. Ich konnte damals aber nicht nach Pommern fahren. Schon gar nicht nach Hinterpommern. Damals lagen all diese Orte hinter dem Eisernen Vorhang und waren für mich schlicht nicht zugänglich. Das wiederum machte sie ganz besonders geheimnisvoll.

Inzwischen bin ich längst in Hinterpommern gewesen. Im Sommer 2009 sind Ralf und ich mit einem kleinen Schwarz-Weiß-Foto durch Podewils – es heißt heute Podwilcze – gezogen und haben das Haus meiner Urgroßeltern gesucht. Wir haben Menschen auf der Straße das Bild gezeigt, auf dem mein Papa als kleiner Junge neben meiner Großtante Herta auf der Treppe vor dem Haus steht. Doch niemand konnte oder wollte das Haus erkennen.

Ungefähr 80 Jahre her: der kleine Kurt mit Tante Herta auf der Treppe vor dem Haus.
Das Haus wurde verputzt, die Fenster verändert. Aber Tür und Treppe sind gut zu erkennen.

Geholfen hat schließlich Oma Hilde. Ich habe mich vor das Rentamt in der Dorfmitte gestellt und sie mit dem Handy angerufen. „Hallo Oma, wir stehen hier in Podewils vor dem Rentamt und suchen euer Haus. Wo muss ich langgehen?“ Sie hat sich total gefreut. „Nein, wirklich! Da ruft mich tatsächlich jemand aus Podewils an! Da hätte ich nie mit gerechnet.“ Sie beschrieb mir den Weg, es war nicht weit. Podewils ist klein, es gibt nur drei Straßen.

Das alte Rentamt in Podewils. Zu dem Storch auf dem Dach gibt es eine lustige Geschichte. Als mein Vater zwei Jahre alt war, wurde sein Bruder Peter geboren. Man sagte ihm, der Storch habe ihn gebracht. Der kleine Kurt wollte aber kein Brüderchen. Er lief zum Rentamt und schrie zum Storchennest hinauf, man möge den Bruder gefälligst wieder abholen.

Mit Papa in Podewils – eine Rückkehr nach 71 Jahren

Sieben Jahre später waren wir mit meinen Eltern noch einmal dort, und mein Vater hat das alte Haus wiedergesehen. Es hatte schon bei unserem ersten Besuch leergestanden; nun hatte der Verfall eingesetzt. Ein netter junger Mann, den mein Vater ansprach, erzählte uns, das Haus gehöre der Kirche. Am liebsten wäre ich hineingegangen in das baufällige Haus. Ich habe mich nicht getraut. Das tut mir heute noch leid.

In unserem Wohnzimmer hängt ein Bild, das Oma Hilde einst aus der Erinnerung gemalt hat. Es zeigt das Haus der Familie in Podewils. Sie hatte ein gutes Gedächtnis, man erkennt es wieder. Die Backsteinmauern wurden später verputzt, und ein Fenster wurde zugemauert, ein weiteres vergrößert. Doch anhand der Umgebung und anhand des Schattens zur Mittagszeit konnten wir es eindeutig identifizieren.

71 Jahre nach der Flucht: Papa steht am Gartentor des Hauses, in dem er seine ersten Lebensjahre verbrachte. Mit dabei sind Ralf und meine Mutter.

In Hinterpommern liegen die Dörfer weit auseinander. Man muss mitunter lange durch den Wald fahren, bevor man die nächste Ansiedlung erreicht. Bei uns in Vorpommern geht es ein klein wenig enger zu, aber so viel macht es nicht aus. Auch hier findet man viel Landschaft mit wenigen Menschen. Gegenden wie der Lieper Winkel auf der Insel Usedom zum Beispiel könnten genau so gut in Hinterpommern liegen. Wenn ich in dieser Umgebung unterwegs bin, fühle ich mich eingefügt in ein Ganzes.

Ein menschliches Bedürfnis: das Finden von Wurzeln und Wegen

Es geht hier viel um Erde. Um Land und Scholle und solche Dinge. Aber um Besitz geht es mir dabei nicht. Ich möchte einfach die Orte spüren, von denen ich schon so viel gehört habe, an denen meine (Ur)urgroßeltern lebten und meine Geschichte begann. Ich glaube, das Finden von Wurzeln und Wegen ist ein urmenschliches Bedürfnis. Da ist ja nicht nur Pommern. Ich möchte mir auch das Land an der Warthe ansehen, das die Familie der Mutter von Opa Walter jahrhundertelang bewirtschaftete und wo mein Opa schon als kleiner Junge die Ochsen einspannen und pflügen musste.

Meine Vorfahren kamen aus allen möglichen Gegenden. Auch aus Ostpreußen, aus Schlesien, aus Sachsen und natürlich aus dem Rheinland. Einige trugen slawische Namen: Bielitzki, Murawski, Sobczak und noch ein paar mehr. Schon lange vor meiner Zeit gab es in dieser Familie Wandervögel. Und jede Menge interessanter Geschichten. Auch eine Legende gibt es und ein Rätsel, das ich gerne lösen möchte. Doch das will ich jetzt und hier nicht weiter vertiefen. Vielleicht mache ich eines Tages ein Buch daraus. Einige Texte sind bereits fertig.

Mit dem Kassettenrekorder zum Interview

Ich bin den Eltern meines Vaters und auch meinen Eltern sehr dankbar, dass sie offen waren für meine Fragen. Ungezählte Male saß ich bei Oma und Opa im Wohnzimmer und hörte den Berichten von früher zu. Sie haben keine rosa gefärbten Geschichten voller Heimatkitsch erzählt, sondern ich denke, sie haben tatsächlich versucht, alles so darzustellen, wie es war oder wie sie sich daran erinnerten.

Ende der 90-er Jahre habe ich mit Oma Hilde und Opa Walter Kassetten aufgenommen. Sie haben von ihren Eltern und Geschwistern erzählt, von Leben in ihrer Kindheit und Jugend, von der Zeit, in der sie sich kennenlernten. Dazu haben sie alles auf den Esszimmertisch gelegt, was sie bei der Flucht aus der alten Heimat mitnehmen konnten. Eine Reihe von Fotos und sogar alte Geburts- und Heiratsurkunden meiner Urgroßeltern waren dabei. Es war allerhöchste Zeit für die Interviews. Opa Walter ist im August 1999 gestorben. Seine Stimme und seine Geschichte sind mir geblieben.

Meine Oma hat noch bis 2017 gelebt, sie wurde fast 100 Jahre alt. Auf die Bitten ihrer Kinder hin hat sie ihre Lebensgeschichte aufgeschrieben bis zu der Zeit, in der die Familie Anfang der 50-er Jahre in Remscheid ein neues Zuhause fand. Auch mein Vater hat seine Geschichte aufgeschrieben. So liegen die alten Erinnerungen nun bei mir im Vertiko, und ich finde, das gehört zu dem Besten und Wertvollsten, was mir diese geliebten Menschen hinterlassen haben. Mein Vater ist voriges Jahr gestorben. Drei Monate danach habe ich darüber einen Beitrag für diesen Blog geschrieben.

Ein Einschnitt, der über mehrere Generationen wirkt

Niemand kommt aus dem Nichts. Alle Menschen gehören in ein Gefüge, ein Geflecht, das sich zusammensetzt aus ihren Vorfahren und aus deren Landschaften, Erlebnissen und Erfahrungen. Zu allen Zeiten haben Menschen ihre Heimat verlassen und sind weitergezogen. Ein wesentlicher Unterschied liegt darin, ob jemand freiwillig geht und zurückkommen kann oder ob das nicht so ist. Dieser tiefe Einschnitt – dass meine Vorfahren nicht zurückkommen konnten, sofern sie den Krieg überhaupt überlebten – hat in meinem Unterbewusstsein immer eine große Rolle gespielt. Obwohl ich erst zwei Generationen später zur Welt gekommen bin.

Eingebunden in die Landschaft – ich bin eben doch ein Bauernkind.

Vielleicht trägt jeder Mensch die Landschaft seiner Vorfahren in sich, und vielleicht einen Teil davon mehr als den Rest: den Teil, in den – aus welchen Gründen auch immer – eine ganz besonders starke Wurzel hinreicht. Womöglich ist auch das eine Art Erbe – auch wenn es nicht in unserer DNA, liegt, sondern sich auf einer anderen, einer geistig-emotionalen Ebene vollzieht.

Ich jedenfalls habe einen spürbaren Anteil pommersches Bauernkind in mir – allerdings mit einer gehörigen Portion Fernweh und einer Neigung zum Reisen auf dem Wasser.

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Corona muss weg – aber wir verlieren uns in Nichtigkeiten

Weshalb wir die Pandemie nicht effizient bekämpfen

Wir machen immer wieder die gleichen Fehler. Wir verlieren das Wesentliche aus den Augen. Statt dass wir alle zusammen die Pandemie effizient bekämpfen, zersplittern wir uns in Gruppen. Verlieren uns in Nichtigkeiten. Diskutieren, überlegen, handeln zu langsam. Und was noch viel schlimmer ist – es gibt Menschen, die nicht das Virus, sondern andere Menschen bekämpfen. Denn auch das macht Corona deutlich: Die Hemmschwellen sinken. Widerliches kommt ans Tageslicht. Pöbeleien, Hass, Gewaltaufrufe.

Hier offenbaren sich die menschlichen Schwächen, die immer wieder, zu allen Zeiten, zu Katastrophen geführt haben. Kriege. Pogrome. Umweltzerstörung. Und jetzt, aktueller denn je, der Klimawandel. Kleingeist, Unvernunft, mangelnde Weitsichtigkeit und Egoismus scheinen in der Summe stärker zu sein als Klugheit, Besonnenheit und Zusammenhalt.

Warum tun wir nicht konsequent, was nötig ist?

Warum tun wir nicht einfach das, was nötig ist? Ein Virus zu bekämpfen bedeutet doch wohl in erster Linie, Ansteckungen zu verhindern. Und zwar überall da, wo diese erfolgen. Also auch in den Büros und Produktionshallen großer Unternehmen. Auch während der Pause in der Teeküche. Und natürlich in Häusern, Fahrstühlen und Wohnungen. Beim heimlichen Treffen mit den Freunden, bei dem man sich mit dem Bierglas in der Hand auch noch freut, dem Staat eins ausgewischt zu haben.

Was steht dem wirkungsvollen und vor allem rechtzeitigen Einsatz gegen die Pandemie eigentlich alles im Weg? Und sind diese Hindernisse tatsächlich so schwer zu überwinden?

Corona hat’s auf der Party gerade lustiger

Stellen wir uns mal vor, das Virus mit seinen Mutanten und wir Menschen sind gerade auf derselben Party. Jetzt wäre es ratsam, dafür zu sorgen, dass die Party für die Coronafamilie nicht lustiger wird als für uns. Und was passiert wirklich?

Am Buffet steht stocksteif die Bürokratie und frisst wertvolle Zeit einfach auf. In der marginal beleuchteten Lounge lümmelt der Lobbyismus und raunt, dass zu viele Tests zu viel kosten und dass Homeoffice hier und wohl auch dort eine schlechte Idee ist. Im Saal neben der Lounge diskutieren derweil die Veranstalter der Party mit ausgesuchten Wissenschaftlern, wie sie ihre Gäste am besten schützen. Einige hören mehr auf das Geraune aus der Lobby nebenan, andere mehr auf die Wissenschaftler. Es gibt viele Ideen, Einigkeit gibt es eher nicht.

Die Partygäste dürfen nicht auf die Tanzfläche, aber einige gehen trotzdem hin. Die meisten sitzen familienweise verpackt in Separées. Manche treffen sich heimlich im Keller. Auf der Bühne spielt niemand Tanzmusik, doch es treten bekannte Figuren mit einer zwar komplett informationslosen, dafür aber zynischen Kabarettvorstellung auf. Es kommen Buhrufe, aber es kommt auch Applaus. Letzterer vor allem von denen, die lieber an Verschwörungen glauben als an Corona.

Zwischen Zeitverschwendung und Zynismus, Geraune und Verständnislosigkeit tanzt derweil das Virus überall da von Wirt zu Wirt, wo man es ihm leicht macht. Corona scheint es tatsächlich gerade lustiger zu haben als wir. Wir hätten die Party absagen sollen.

Auf geht’s! Immer geradeaus zum Ziel

Okay, genug fabuliert. Statt auf der Party herumzuirren, sollten wir uns jetzt endlich mal geradeaus bewegen. Auf unser Ziel zu. Das Ziel heißt: das Virus so gut wie möglich stoppen. Wenn wir den Viren keine Gelegenheit mehr geben, von dem einen auf den nächsten Wirt zu wechseln, hat Corona zwangsläufig bald ausgetanzt. Wie schafft man das? Wenig Kontakte, vor allem in Innenräumen, wirksame Masken, Impfen. Und mit möglicht vielen Tests die Virusträger finden und isolieren. Das klingt doch eigentlich nicht besonders kompliziert.

Es bringt nichts, immer wieder das „Wir-haben-zu-spät-zu-wenig-Impfstoff-bestellt“-Fass aufzumachen. Mittlerweile entspannt sich die Lage immerhin. Und wenn wir beklagen, dass im vergangenen Sommer zu wenig Vorbereitungen auf eine zweite und dritte Corona-Welle getroffen wurden, ist das sicher richtig. Aber auch dieses Lamento hilft uns gerade nicht weiter. Vergangene Fehler können wir nach der Pandemie aufarbeiten. Jetzt sollten wir unsere Energie lieber darauf verwenden, künftige Fehler zu vermeiden. Wir haben doch dazugelernt, oder nicht?

Dreiviertellockdown setzt uns in die Dauerschleife

Manchmal bin ich mir da nicht so sicher. Trotz der Bundesnotbremse und der strengen Regelungen in unserem Bundesland befinden wir uns gefühlt immer noch in einer Art halbem oder Dreiviertellockdown. Natürlich gibt es Berufe, in denen man nicht zu Hause arbeiten kann. Aber genau so gibt es Menschen, die ins Großraumbüro gehen, obwohl sie zumindest einen Teil ihrer Arbeit von zu Hause aus machen könnten. Die angekündigte Testpflicht in den Unternehmen schleppt sich als müde Testangebotspflicht durch den Alltag der Arbeitnehmer. Und überall, in Supermärkten, in öffentlichen Verkehrsmitteln, sogar im Wartezimmer von Arztpraxen, sehe ich immer wieder Menschen mit lose vor dem Kinn schlabbernder medizinischer Maske, während die Nase drüber wegguckt. Wie, bitteschön, sollen wir Corona so daran hindern, sich bei neuen Wirten einzunisten?

In der Segelschule rotieren wir im Moment in einer Dauerschleife. Seit Wochen sagen wir praktischen Motorboot- und Segelunterricht erst zu, dann wieder ab. Wir planen, planen um, planen neu. Die Regeln haben sich immer wieder geändert. Die meisten unserer Teilnehmer nehmen das hin, zeigen Empathie und sind freundlich. Aber bei einigen liegen jetzt die Nerven blank. Die Grenze zum Rumpöbeln hat auch schon einer überschritten. Und es gibt tatsächlich solche, die glauben, dass Corona die Erfindung einer bösen Macht im Hintergrund ist. Und dass alle, die sich vor dem Virus schützen möchten, blöd sind. Das ist zum Glück bei unseren Kursteilnehmern nur eine Minderheit.

Bei Dummheit in der Krise hört der Spaß auf

Trotzdem ärgert mich das. An manchen Tagen rege ich mich auch furchtbar darüber auf. Muss ich Verständnis für Menschen haben, denen es an Besonnenheit fehlt, an der Bereitschaft oder auch der Fähigkeit, sich jenseits von „einfachen Lösungen“ zu orientieren? Nein! Ich habe keine Lust mehr, tolerant zu sein. Normalerweise halte ich mich an die einfache Regel „Leben und leben lassen“, aber bei Dummheit in der Krise hört der Spaß auf. Neulich habe ich eine Mutter im Fernsehen bestaunt, die sich gegen die Tests bei Schulkindern aufgelehnt hat. Ihre Begründung: „Ich teste doch kein gesundes Kind!“ Dabei war ihr die Wut anzuhören. Hat sie wirklich nicht verstanden, wozu Tests da sind? Was soll die aufgeheizte Stimmung? Wir lösen ein Problem nicht, indem wir es ignorieren. Die Pandemie halten wir damit nicht auf.

Warum ist das so schwer zu begreifen? Weil wir das Virus nicht sehen können? Aber wir sehen doch die Folgen. Menschen sterben. Über 80.000 mittlerweile, das entspricht fast der Einwohnerzahl meiner Heimatstadt Remscheid. Menschen leiden an den Folgen der Erkrankung, werden vielleicht nie mehr richtig gesund. Und nicht „nur“ die Alten. Warum ziehen wir für eine überschaubare Zeit mal nicht alle an einem Strang statt das Tau in verschiedene Richtungen zu zerren und immer wieder zu zerreißen? Wir brauchen keine Querdenker, die in Wirklichkeit Quertreiber sind, wir brauchen keine Lobbyisten, wir brauchen keine Zynisten und keine unqualifizierten YouTuber, die anderen irgendwelchen Quatsch in die Hirne blasen.

Mal fehlt Sinn, mal fehlt Mut

Natürlich machen auch Ralf und ich uns Gedanken über den politischen Umgang mit der Pandemie. Wir wittern Wahlkampf und finden logische Brüche. Wir sehen, dass es auch sinnlose Maßnahmen gibt, dass es an Mut fehlt, wirtschaftlichen Größen auf die Füße zu treten, dass nicht alle wissenschaftlichen Bereiche gleich viel Gewicht haben. Warum zum Beispiel hört man vergleichsweise wenig auf Aerosolforscher und verhindert vielerorts Aktivitäten in Außenbereichen, während Produktionshallen, öffentliche Verkehrsmittel und Büros noch immer von zu vielen und teils schlecht maskierten Menschen bevölkert werden?

Aber auch wenn wir einige der Maßnahmen kritisieren und manche absurd finden (z. B. die Ausgangssperre auf der Insel Helgoland mit der Corona-Inzidenz Null), befürworten wir den Kampf gegen die Pandemie. Wir informieren uns täglich und setzen uns mit der Problematik auseinander. Wir sehen auch die gesellschaftlichen Folgen und die existenziellen Probleme, die das alles mit sich bringt. Das alles macht uns Sorgen – doch in erster Linie müssen wir die Pandemie in den Griff bekommen, auch wenn wir darüber die anderen Probleme nicht vergessen dürfen.

Kein Toter kommt wieder

Ich finde, dass wir jetzt nicht den Fehler machen dürfen, uns von der Verfolgung unseres vorrangigen Zieles ablenken zu lassen. Meine Rechte und meine Freiheit sind mir sehr wichtig, und ich möchte beides nicht verlieren. Aber ich bin bereit, mich da im Moment zurückzunehmen. Denn Menschenleben sind noch wichtiger. Kein Toter kommt wieder. Wie können wir es zulassen, dass Menschen an Corona zugrunde gehen, während wir endlos diskutieren, klagen, protestieren und – was das Allerallerschlimmste ist – andere mit Hassparolen attackieren?

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