Tsunami

Manchmal ändert ein Ereignis unser Leben, aber wir selber merken das erst viel später. Das Ereignis löst so etwas wie eine Welle aus, die lange läuft und das, was sie auf ihrem Weg berührt, verschiebt und neu ordnet. Warum bin ich da, wo ich bin? Wie viele Zufälle und unreflektierte Zusammenhänge haben mich in genau dieses Leben gebracht, das ich führe? Vielleicht habt Ihr Euch diese Fragen auch schon mal gestellt. Ich mache das ab und zu und bin zum Jahresende eher zufällig mal wieder auf diese Gedanken gekommen.

Diesmal habe ich zwischen den Jahren mehr ferngesehen als sonst. Das lag daran, dass ich an Weihnachten Corona hatte und deshalb alle Unternehmungen auswärts nicht stattfinden konnten. Sofa statt Weihnachtsessen im Restaurant. Sofa statt Eislaufen und Glühwein trinken in Heringsdorf. Und so weiter. Jetzt kenne ich eine Menge romantischer Weihnachtsfilme mit traurigem Start und Happy End.

Die zweite Welle

Weil aber immer nur Herz-Schmerz irgendwann langweilig wird, habe ich mir die Serie „Die zweite Welle“ angesehen. Sie erzählt die Geschichte von ein paar Freunden, die im Weihnachtsurlaub 2004 in Khao Lak in Thailand in den Tsunami geraten. Danach ist nichts mehr wie vorher. 15 Jahre später holen die Ereignisse von damals jeden einzelnen von ihnen wieder ein. Das Ganze ist spannend erzählt, und an Bildern der verheerenden Auswirkungen des Tsunami fehlt es nicht. Die zweite Welle ist das, was den Freunden später passiert.

Die Bilder aus Thailand, das Szenario, dass die Welle weiterläuft und Jahre später indirekter Auslöser für eine Reihe von Ereignissen ist, brachten mich dazu, über die vielen Zufälle und Vorfälle nachzudenken, von denen unser Leben oder der Verlauf unseres Lebens abhängen. Ein Erdbeben löst eine Welle aus. Doch was löst die Welle alles aus?

Während ich die Serie sah, wurden bei mir ganz persönliche alte Bilder wieder lebendig. Ein Tsunami schafft Veränderung. Das haben wir 2004 gesehen und dann in bedeutendem Maße wieder 2011, als es nach dem Tsunami in Japan im Atomkraftwerk Fukushima zu einem Super-GAU kam.

Der Tsunami 2004 war der erste, der weltweit eine so große Aufmerksamkeit erfuhr. Er brachte für hunderttausende Menschen in mehreren Ländern Tod und Zerstörung. Aber damit war es noch nicht zu Ende. Wellen laufen lange; sie können sich im abstrakten Bereich immer weiter fortsetzen, weil die Zerstörungen und Veränderungen, die sie primär bewirken, Folgen nach sich ziehen. Diese betreffen vielleicht das eigene Leben, auch dann, wenn man mit dem Ereignis selbst gar nichts zu tun hatte.

Wir ahnten nicht, dass sich gerade unser Leben änderte

Ralf und ich haben – wie die meisten Menschen – am 26. Dezember 2004 im Fernsehen von der Katastrophe erfahren. Wir waren erschüttert über die ungeheure zerstörerische Kraft, über das viele Leid, das die Welle hinterlassen hat. Doch wir waren weit weg, wir kannten niemanden, der sich gerade in einem der betroffenen Länder aufhielt. Und dort gewesen waren wir auch noch nie. Was wir nicht ahnten, als wir Weihnachten 2004 in Salzwedel vor unserem Fernseher saßen, war, dass sich gerade unser Leben änderte. Die Welle würde uns schon bald auf einen Weg bringen, den es ohne sie gar nicht gegeben hätte.

Noch Monate später Kahlschlag in Khao Lak

Lange bevor wir die Abzweigung erreichten und uns dafür entschieden, den neuen Weg zu gehen, landete ich auf einer Pressereise in den vom Tsunami verwüsteten Urlaubsregionen in Thailand. Das war im August 2005, gut acht Monate nach der Welle. Auf der Insel Phuket kamen die Wiederaufbauarbeiten schnell voran. Im so paradiesisch gelegenen Khao Lak war der Kahlschlag, den die Welle hinterlassen hatte, noch deutlich zu sehen. Wo einst Bäume, gar ein ganzes Wäldchen gestanden hatten, gab es nur noch öde Flächen. Unten, nahe des Strandes, wo die Gäste der Lodges und Ferienresorts ihren Urlaub in kleinen Bungalows verbracht hatten, war von den Häuschen kaum noch etwas übrig. Aber es wurde schon wieder eifrig gebaut.

August 2005 in Khao Lak: Noch sind die Spuren des Tsunami deutlich zu sehen.

Zwei Kilometer im Landesinneren lag ein Polizeiboot, das am Tag des Tsunami angeblich einen der thailändischen Königssöhne beim Surfen begleitet hatte. Die Welle hatte es dorthin geworfen. In der Nähe standen einfache Wohnhäuser, teilweise noch immer mit großen Rissen in den Wänden. Andere waren komplett zerstört, da gab es nur noch die Fundamente.

Etwa zwei Kilometer landeinwärts in Khao Lak. Hierhin hat die Welle das Polizeiboot gespült.

Und doch, beim Blick vom Berghang hoch über dem langen Strand von Khao Lak auf den Indischen Ozean fiel es mir schwer, mir vorzustellen, wie sich das Meer zurückzieht und dann eine riesige Welle heranrauscht. Oder mehrere Wellen. Man berichtete uns Journalisten vom geplanten Tsunami-Frühwarnsystem. Und warb dafür, dass die Menschen keine Angst haben sollten, nach Thailand zu reisen.

Trügerische Idylle: Blick vom „Tsunami Point“ auf den Strand von Khao Lak.

Wir wohnten in einem Fünf-Sterne-Resort in Phuket, in dem von den Folgen des Tsunami schon nichts mehr zu sehen war. Das Resort war weitläufig und lag an einem Hang. Mein Zimmer, eigentlich eher eine kleine Suite, war eines von nur zweien im Hotel, die durch die Welle zerstört worden waren. Davon war aber nichts mehr zu merken, das Zimmer war wie neu. Es befand sich im Erdgeschoss, mit einer eigenen Terrasse zum Ozean hin. Die Außenwand bestand aus einer Glasfront mit großen Schiebetüren. Ich sah die sich im starken Monsunwind biegenden Palmen und direkt dahinter das Meer. Auf den Fenstertüren klebte ein Film aus Salz und Gischt. Die Vorstellung, dass das Wasser jederzeit wieder in dieses Zimmer krachen konnte, war unheimlich, aber irgendwie auch sehr abstrakt.

Mein Zimmer in Phuket. Der Tsunami hatte es komplett zerstört. Zu sehen war davon nichts mehr.

Kaum jemand fragt noch nach dem Tsunami

Über die Thailand-Reise schrieb ich einen Artikel für die Volksstimme, die Tageszeitung im nördlichen Sachsen-Anhalt, für die ich damals arbeitete. In Thailand hatte ich Menschen kennengelernt, die in den Hotels oder als Reiseführer arbeiteten. Der damalige Gouverneur der Provinz Phuket nahm an einem Abendessen mit uns teil und berichtete von den Tsunami-Folgen und den Zukunftsplänen der Region. Ein aus Australien stammender Hotelmanager in Krabi erläuterte uns die Evakuierungspläne seines Luxus-Resorts im Falle einer Tsunami-Warnung. Sie alle wollten natürlich, dass wieder Urlauber kamen.

Tatsächlich lief es bald wieder mit dem Tourismus in Thailand. Zehn Jahre später florierte Khao Lak. Offenbar interessierte sich da kaum noch jemand von den Gästen für die Sicherheit in Sachen Tsunami, hieß es in einem Stern-Artikel von 2014.

Mittlerweile gibt es ein Tsunami-Frühwarnsystem. Im Indischen Ozean installierte Messbojen sollen regelmäßig Daten senden und im Ernstfall so früh wie möglich warnen. Ob es wirklich zuverlässig funktioniert, daran gibt es Zweifel. Eine Karte zeigt, wo die Bojen sich befinden sollten und ob sie in den vergangenen acht Stunden gesendet haben oder nicht.

Wichtig ist vor allem die „letzte Meile“: Eine Warnung muss die Menschen vor Ort erreichen. Sie darf nicht in irgendwelchen Institutionen stecken bleiben. Mit der Problematik setzt sich unter anderem das WDR-Format Quarks auseinander. Hätte es 2004 ein funktionierendes Frühwarnsystem gegeben, hätten die Menschen eine Chance gehabt, sich in Sicherheit zu bringen. In Khao Lak und Phuket wäre die Warnung mehr als eine Stunde vor dem Tsunami möglich gewesen – genug Zeit, um den Strand und die tiefer gelegenen Gebiete zu verlassen. Eine Betrachtung des zeitlichen Ablaufs findet Ihr auf zeit.de.

Traumurlaub mit tödlichem Ende

Damals war keine Zeit mehr. Da krachte das Wasser ohne jede Vorwarnung in den sonnigen Weihnachtsmorgen, nahm Menschen, Liegestühle, Sonnenschirme, Strandpavillons, Häuser, Bäume, Autos und auch sonst alles Mögliche mit, und als die Welle sich zurückzog, sog sie vieles – auch Menschen – mit hinaus in den Ozean. Unter den vielen Urlaubern in Thailand war ein Paar aus Norddeutschland. Es betrieb die Segelschule Rückenwind in Wolgast, erst vor gut sechs Jahren gegründet und auf dem Weg in eine gute Zukunft. Und nun, im Dezember, als alle Boote an Land waren und in die Segelschule im Winterschlaf ruhte, war die Gelegenheit für einen Traumurlaub in Sonne und Wärme.

Von den beiden kehrte nur Elke zurück. Ihr Partner hat den Tsunami nicht überlebt. Sie machte erst noch weiter mit der Segelschule, beschloss dann aber, sie zu verkaufen. Und diese Verkaufsanzeige in der Zeitschrift Yacht entdeckte Ralf dann eher zufällig, weil er sich auf einer Zugfahrt im Herbst 2006 so sehr langweilte, dass er, nachdem er alle Artikel der Zeitschrift durch hatte, auch noch sämtliche Kleinanzeigen las. Die Geschichte findet Ihr hier im Blog unter dem Reiter Segelschule.

Den letzten Impuls geben wir oft selbst

Wäre das Erdbeben im Indischen Ozean nicht passiert, wäre unser Leben heute ein anderes. Doch das allein war es ja nicht. Hätte Ralf sich auf dieser Zugfahrt 2006 nicht gelangweilt, hätte er noch ein Buch oder eine andere Zeitschrift dabei gehabt, hätte er die Anzeige wohl nicht gelesen. Eine Katastrophe also und ein Zufall. Beides zusammen stellte uns an eine Abzweigung, und wir konnten uns nun entscheiden: Sollen wir den alten Weg weiter gehen? Oder den neuen nehmen?

Der alte Weg hätte bedeutet, es nicht mit der Segelschule zu versuchen, sondern bei unseren eigentlichen Berufen zu bleiben. Es gehört schon Entschlusskraft dazu, das Leben komplett zu ändern und etwas völlig Neues zu beginnen. Man weiß vorher ja nicht, ob das klappt. Wir haben es versucht und es hat funktioniert. Wenn es schief gegangen wäre, hätten wir einen anderen Weg suchen müssen.

Den letzten Impuls geben wir oft selbst. Zufälle, Entwicklungen und Ereignisse, auf die wir keinen Einfluss haben, führen uns an einen Punkt, an dem wir eine Entscheidung treffen können oder manchmal auch müssen. Manchmal erfordert diese Entscheidung Mut oder eine gewisse Bereitschaft zum Risiko. Wer immer nur dem eingefahrenen Weg vertraut, wird den steinigen, verschlungenen Pfad, der da abzweigt, nicht erklimmen. Er wird dann nicht in die Tiefe stürzen – aber auch die überwältigende Aussicht, zu der dieser Pfad sich irgendwann öffnet, nicht erleben.

Glück auf Unglück aufbauen – geht das?

„Jeder ist seines Glückes Schmied“ ist einer von diesen Sprüchen, die jeder kennt. Auf Holztäfelchen graviert und in die Diele gehängt, auf Leinen gestickt und der Aussteuer beigefügt oder einfach in der Schule von innen auf die Klotür gekritzelt. Dieser Spruch ist nicht verkehrt, wenn es darum geht, aus den vorhandenen Möglichkeiten das Beste zu machen. Aber alles haben wir eben doch nicht in der Hand. Katastrophen, Unfälle, Zufälle, Krankheiten können uns treffen, ohne dass wir das verhindern können.

Im Zusammenhang mit dem Tsunami fällt mir noch so ein Spruch ein. Den habe ich in meiner Jugend öfter gelesen, auf einen Tisch in der Schule geschrieben oder einfach im Poesiealbum oder Freundschaftsbuch. „Du sollst dein Glück nicht auf dem Unglück anderer aufbauen.“ Ja, das haben wir tatsächlich geglaubt, als wir zwölf oder dreizehn waren und gute Menschen sein wollten. Immer, wenn etwas jemand anderen unglücklich macht, ist es nicht anständig, daraus für sich selbst Glück abzuleiten. Wir haben damals nicht verstanden, das diese Interpretation Unsinn ist. Es wäre besser gewesen, „Du sollst versuchen, kein Unglück in das Leben anderer Menschen zu bringen“ zu schreiben. Für den Tsunami konnten wir nichts. Er brachte Elke und ihrem Partner Unglück. Das Leben mit der Segelschule macht Ralf und mich glücklich. Kein Grund für ein schlechtes Gewissen. Außerdem hätte es Elke ja nichts genützt, wenn niemand die Schule gekauft hätte.

Jeder von uns wird in seiner Geschichte oder in der Geschichte seiner Vorfahren Ereignisse finden, die – obwohl lange vorbei und vielleicht ganz woanders geschehen – einen direkten Einfluss auf seine heutige Existenz haben. Und das waren oft keine schönen oder glücklichen Wendungen. Was zum Beispiel für sehr viele Menschen in Deutschland zutrifft, ist die Tatsache, dass sie nicht geboren worden wären, wenn es den Zweiten Weltkrieg nicht gegeben hätte. Das gilt übrigens auch für Ralf und mich. Dieser Krieg löste die größte Fluchtwelle innerhalb Europas aus. Unsere Väter waren Flüchtlingskinder aus dem Osten, unsere Mütter kamen im Rheinland beziehungsweise im Ruhrgebiet zur Welt.

Achtsamer leben

Ich finde es gut, ab und zu innezuhalten und über Zufälle, Ereignisse und Zusammenhänge im eigenen Leben nachzudenken. Und auch immer aufmerksam zu sein, ob sich nicht hier oder da eine Chance bietet, eine Abzweigung, eine Möglichkeit, etwas zum Besseren zu ändern. Oder einfach die Folgen einer Handlung oder Entscheidung zu bedenken. Das bedeutet, achtsamer zu leben, sowohl auf die Vergangenheit als auch auf die Zukunft bezogen. Denn das, was wir tun, löst oft etwas aus. Weitere Handlungen, Ereignisse, Entwicklungen. Wellen laufen lange. Auch später noch.

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1 Kommentar

  1. Mal wieder gut geschrieben, liebe Katja. Und, ja… inne halten über das, was das Leben uns bescherte…auch mein Leben ist voll davon. Du und Ralf habt auch einen Anteil daran.
    Danke dir…

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