Was uns bleibt vom Leben der anderen

Was einmal war, ist immer da.

Dieser Satz geistert durch meine Gedanken.

Alles, was war, hinterlässt etwas. Wo vor Hunderten von Jahren ein Haus stand, schlummern heute seine Spuren und die der Menschen, die dort lebten, in der Erde.

Ich habe mehr als mein halbes Leben hinter mir und fühle mich doch noch immer mitten drin, habe Pläne für die Zukunft, lerne drei Sprachen, Klavierspielen und Singen, würde gern wieder mehr schreiben. Aber gleichzeitig gewinnt die Vergangenheit an Bedeutung. Die erweiterte Vergangenheit, würde ich sagen. Nicht nur meine eigene, sondern auch die Geschichte der Menschen, die vor mir da waren.

Wenn ein Mensch stirbt, bleibt etwas von ihm. Aber was ist es, das da bleibt? Vor allem natürlich unsere Erinnerungen. Die Stimmen, die nie verklingen, die einen immer wieder direkt ins Herz treffen. Noch immer kann ich meine Eltern reden hören, gerade so, als wären sie im selben Zimmer. Und nicht nur sie.

Einfach nur Erinnerungen – das ist aber zu kurz gedacht. Da ist noch mehr. Manchmal spüre ich die Anwesenheit eines Menschen, den es nicht mehr gibt. Es mag ein Lufthauch sein, eine Idee, ein Gedanke, der scheinbar aus dem Nichts kommt und sich wie ein guter Rat anfühlt. Da schwebt ein längst verklungenes Lachen durch den Raum, da ist plötzlich eine Ahnung von Nähe und Achtsamkeit.

Die Sache mit dem Weihnachtsstern

Bisweilen passiert auch Seltsames. Da ist die Sache mit dem Weihnachtsstern. Meine Mutter hat mir früher jedes Jahr in der Adventszeit einen Weihnachtsstern geschenkt. Erst spät, als es ihr in ihren letzten Jahren nicht mehr gut ging, hat sie damit aufgehört. Da habe ich dann angefangen, mir im Advent selber einen kleinen Weihnachtsstern zu kaufen. Bis zum Dezember 2021. Das waren Mamas letzte Wochen. Gegen ihren Krebs half nichts mehr. Sie lebte schon länger im Pflegeheim an der Ostsee, und ich besuchte sie zum Schluss jeden Tag. Derweil verlor mein Weihnachtsstern sämtliche Blätter. Am 18. Dezember starb die Mama.

Als ich in den Tagen danach das kahle Pflänzchen wegwerfen wollte, sah ich einen winzigen hellgrünen Trieb. Ich behielt den Stern. Inzwischen ist er so groß, dass er kaum noch auf die Küchenfensterbank passt. Und dieses Jahr hatte er im Frühling plötzlich wunderschöne rote Blätter. Es war wie ein Gruß von der Mama. Niemals zuvor habe ich erlebt, dass ein Weihnachtsstern wieder rote Blätter bekam, nachdem die ersten abgefallen waren. Auch dann nicht, wenn er noch jahrelang hielt.

Plötzlich rote Blätter: mein Weihnachtsstern im April. Mittlerweile sind die roten Blätter weg, aber die Pflanze ist größer und dichter geworden.

Oder die Geschichte mit dem Baum. An einem windstillen Tag im Frühling haben wir Mamas Grab im Friedwald besucht. Es befindet sich unter einem schmalen Ahorn, der zwischen lauter Buchen steht. Als Ralf und ich am Grab standen, schaute ich wie immer nach oben in die Baumkrone. Und plötzlich bewegte sie sich zwischen all den stillen Bäumen hin und her. Gerade so, als wollte sie uns zuwinken. Es war, als hätte ein Windhauch nur diesen einen Baum gestreift.

Zauberwald

Aber das Seltsamste ist das mit dem räumlichen Sehen. Offenbar haben meine Augen in der frühen Kindheit die Zusammenarbeit nicht trainiert, so dass die räumliche Wahrnehmung bei mir nicht gut funktioniert hat. Meine Welt sah immer ein bisschen aus wie eine Postkarte, und ich musste mich ganz schön anstrengen, um zum Beispiel Abstände zu schätzen. Das bedeutet, jedes Auge funktioniert für sich, aber es erzeugen nicht beide gemeinsam automatisch ein dreidimensionales Bild im Gehirn. So ähnlich hat meine Augenärztin mir das mal erklärt. Wenn ich 3-D gucken wollte, musste ich das immer ganz bewusst steuern.

Im Januar 2022 wurde die Mama im verschneiten Friedwald auf Usedom beerdigt. Als ich an jenem Morgen in den Wald kam, standen die Bäume hinter- statt einfach nur nebeneinander. Überall waren Räume und Abstände, und es sah für mich aus wie ein Zauberwald. Seitdem funktioniert das räumliche Sehen bei mir viel besser, und wenn ich in irgendeinen Wald gehe – es muss nicht der Ruheforst auf Usedom sein – ist es besonders gut. Ralf sagt, das ist ein Geschenk von der Mama.

Zu Besuch bei Mama im Winterwald

Wer mich kennt, weiß, dass ich im Leben eher rational als emotional unterwegs bin. Ich bin ein Fan logischen Denkens, orientiere mich gern an Tatsachen und versuche im Zweifelsfall, Informationen zu überprüfen, statt einfach zu glauben, was andere behaupten. Ich neige nicht zur Esoterik. Aber ich bin offen für Erlebnisse, die mir zeigen, dass da zwischen Himmel und Erde mehr ist, als das, was wir sehen und anfassen können.

Ich bin auch denen verbunden, die ich nie kennenlernen konnte

Jetzt möchte ich wieder auf die Menschen zurückkommen, die es einmal gegeben hat und die mir wichtig sind. Ich denke, den meisten ist das Bedürfnis vertraut, die eigenen Wurzeln zu kennen und zu wissen, wer vor uns da war und uns über Generationen hinweg etwas mitgegeben hat für unser eigenes Leben.

Ich fühle mich auch denen verbunden, die ich nicht kannte, die schon tot waren, als ich geboren wurde. Ohne die ich aber doch nicht leben würde. Meinen Urgroßeltern zum Beispiel. Meinem Opa, der nicht aus Stalingrad zurückgekehrt ist und über den meine Oma nie gesprochen hat. Den Menschen, die irgendwo ihr Stückchen Land hatten, ihre Arbeit, ihren Alltag in kleinen Wohnungen oder großen Häusern, ihre Sorgen und Freuden, ihre Ängste und ihre Geheimnisse.

Deshalb bin stets ein wenig auf der Suche. Vor allem die Geschichten aus dem „versunkenen Land“ lassen mich nicht los. Schon einmal habe einen Beitrag dazu geschrieben: Kann man eine Landschaft erben? Es ging um Pommern mit seinem weiten Land und dem vielen Wasser, um die Familie meiner Oma Hilde, die in Hinterpommern gelebt hat, um meine tiefe Vertrautheit mit dieser Landschaft.

Das Unerreichbare zog mich besonders an

Als ich ein Kind war, faszinierte mich ganz besonders das Land, das ich nicht besuchen konnte. Es war unerreichbar aus zwei Gründen: Es lag hinter dem Eisernen Vorhang. Und ein Leben, wie es meine Vorfahren dort geführt hatten, gab es längst nicht mehr, einfach weil die Welt sich verändert hatte. Deshalb habe ich alles, was dort im geheimnisvollen Nebel der Vergangenheit schlummerte, das „versunkene Land“ genannt.

Ich will wissen, wie sich das Leben dort anfühlte. Indem ich die Häuser und Höfe finde, wo einst meine jungen Großeltern und deren Vorfahren lebten, Dörfer, Felder, Wälder und Flussauen anschaue, bekomme ich ein besseres Gefühl dafür, wer sie waren, als wenn ich mir ihre Geschichten einfach nur anhöre. So habe ich schon einige dieser alten Orte besucht. Weitere Reisen werden hoffentlich noch folgen.

Ein neues Kapitel mit vielen Familiengeschichten

Ich finde, hier ist es an der Zeit, im Blog ein neues Kapitel zu öffnen. Ich nenne es einfach „Familiengeschichten“. Dort werde ich auch Texte bringen, die es schon länger gibt als diesen Blog und die bisher nur Freunde und Verwandte zu lesen bekommen haben. Am Anfang des neuen Kapitels steht aber eine Reise, die Ralf und ich erst dieses Jahr im September gemacht haben. Sie führte uns an einen Ort mitten im Nirgendwo, den ich schon sehr lange besuchen wollte. Ein Dorf in der bezaubernden Landschaft an der Warthe im Gebiet Wielkopolskie: viele Felder, Wiesen und Wälder, wenig Häuser, ein Füllhorn voller Erinnerungen, ein Geheimnis und ein seltsamer Traum – Striche Hauland. Wenn Du Lust hast, lies einfach mal rein.

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2 Kommentare

  1. Es ist so schön das die Geschichte unserer Familie nicht in Vergessenheit gerät. Ich danke Katja die Bewahrerin der Geschichte.

  2. Liebe Katja,
    ja, ja und ja…wieder hast Du es geschafft…mich zu Tränen zu rühren. Diese Familiengeschichten sind ein wahrer Schatz. Deine Kurzgeschichten ein Genuss.
    Als ich das erste mal in meinem erwachsenen Leben eine tropische Landschaft sah fühlte ich mich zuhause.
    Deshalb, ja man kann eine Landschaft erben, im Sinne von Prägung aber auch genetisch und epi-genetisch, das ist wissenschaftlich erwiesen.

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