Als das Christkind noch Plätzchen buk

„Schau mal. Das Christkind backt Plätzchen.“ Die Mami hält mich an der Hand, und ich schaue staunend in den Abendhimmel. Flammend rot ist er; die Wolken malen gewagte Muster, und mir ist, als hörte ich das Feuer in Christkinds Backofen knistern.

Als kleines Mädchen erlebte ich die Szene zum ersten Mal, und jedes Jahr im Dezember kam wieder der Moment, in dem meine Mutter diesen kleinen und für mich doch so wichtigen Satz sagte: „Das Christkind backt Plätzchen“. Da mochte der Tag noch so kalt sein, die Winterluft noch so scharf in die Wangen schneiden – dieser wunderschöne Himmel am späten Nachmittag, kurz bevor sich die Welt in samtenes Dunkelblau hüllte und überall die Kerzen und Lichterketten erleuchteten, ließ vor allem ein Gefühl wachsen: das von Wärme. Begleitet von Verheißung, Geborgenheit und Vorfreude.

Welch zauberhafte Zeit das war!

Was war das doch für eine zauberhafte Zeit, dieser Advent, dieses Weihnachten, dieses Geheimnisvolle überall, das wie ein unsichtbarer Schleier über den vielen warmen Lichtern lag. Es war, als würden wir alle näher zusammenrücken, indem wir demselben Ereignis entgegenfieberten. Zuhause, im Kindergarten, später in der Schule, überall war die Vorbereitung auf Weihnachten eine ganz große Sache. Wir haben gesungen und gebastelt, Plätzchen gebacken und Wunschzettel geschrieben, Geschenke eingepackt, fürs Krippenspiel geprobt und ungezählte Male die Weihnachtsgeschichte gehört.

Welch ein Zauber lag doch über dem Weihnachtsfest! Mami und ich vor dem Adventskranz.

Ich habe einen katholischen Kindergarten und eine katholische Grundschule besucht, wo natürlich der religiöse Aspekt immer eine große Rolle spielte, kindgerecht aufbereitet und schön anzuhören. Je älter ich wurde, desto mehr verlor dieser Aspekt an Bedeutung. Trotzdem blieb die Weihnachtszeit eine der wichtigsten und schönsten Zeiten im Jahr.

Kam das Christkind mit dem Bollerwagen?

Der wunderbare Zauber der Kindheit hielt sich noch lange, doch er veränderte sich mit der Zeit. Als ich klein war, wollte ich unbedingt dieses geheimnisvolle Christkind sehen, das sich am Heiligen Abend in unser Wohnzimmer schlich und Geschenke unter den Weihnachtsbaum legte. Ich stellte mir immer ein weiß gekleidetes, irgendwie geschlechtsloses Kleinkind mit lockigen braunen Haaren vor, das einen Bollerwagen voller bunter Päckchen hinter sich herzog. Doch begegnet bin ich ihm nie, denn wenn der Papa mit dem goldenen Glöckchen klingelte und ich endlich ins Zimmer durfte, war das Christkind schon weg.

Das Glöckchen kam noch zum Einsatz, als ich längst erwachsen war und an Weihnachten nach Remscheid fuhr, um mit meinen Eltern zusammen zu feiern. Heute steht es auf der Fensterbank in unserer gemütlichen Wohnküche. Und manchmal, ganz manchmal, nehme ich es in die Hand und klingele ein bisschen.

Und wieder sitze ich bei Chris Rea singend im Auto

Die Advents- und Weihnachtszeit, das ist ein Geflecht aus Ritualen und Traditionen, aus Melodien und Düften, aus Freude auf schöne Tage mit den liebsten Menschen, aufs Schenken und Beschenktwerden. Wir brauchen doch all das, Nähe und Wärme und Liebe und Freude. Wir brauchen den Zauber. Viele Jahre ist das „Driving Home for Christmas“-Gefühl mit mir mitgefahren, wenn ich mich vor Weihnachten in Bonn, Münster oder Hamburg mit dem Auto oder mit der Bahn auf den Weg gemacht habe heim nach Remscheid, wo ich doch längst nicht mehr zuhause war. Und immer konnte ich es kaum erwarten, denn fröhliche Tage mit Freunden und Familie lagen vor mir. Wenn ich das Lied von Chris Rea im Radio höre, sitze ich sofort wieder singend im Auto, Geschenke im Kofferraum, ein paar freie Tage vor mir, und freue mir ein Loch in den Bauch.

Jedes Jahr ein Hexenhäuschen

Eine Freundin hat neulich erzählt, dass sie in der Weihnachtszeit oft daran denkt, wie es früher war. Das geht mir ganz genauso. Je mehr Jahre vergehen, desto deutlicher treten die Erinnerungen hervor. Da ist das Knusperhäuschen, das meine Oma Else jedes Jahr zu Weihnachten für mich gemacht hat. Das Hexenhäuschen von Hänsel und Gretel im Miniaturformat, ein süßes kleines Haus mit einem zuckergussverschneiten Dach, die Lebkuchenwände geschmückt mit Plätzchen und Schokolade. Dann das herrliche Gefühl, am mehlverstaubten Küchentisch Sterne und Kreise aus dem Teig zu stechen, während ein Blech nach dem anderen in den Ofen wanderte und es in der ganzen Wohnung nach Plätzchen duftete.

Ein Knusperhäuschen mit Garten – Oma Else hat sich immer so viel Mühe gegeben.

Die Zeit hat gewaltig an Tempo zugelegt – das zeigt uns der Adventskalender

Immer gehörte auch ein Adventskalender dazu, blau und mit bunten Winterszenen bedruckt. Ich weiß noch, wie unendlich lange es dauerte, bis endlich alle 24 Türchen geöffnet und der Heilige Abend da war. Das war eine Ewigkeit! Meine Mutter hat mir übrigens noch bis vor wenigen Jahren jedes Jahr einen Adventskalender geschenkt. Wenn wir uns im November nicht gesehen haben, hat sie ihn per Post geschickt. Jetzt kann sie das nicht mehr machen, aber Ralf und ich schenken uns die Kalender gegenseitig. Sie sind ein guter Indikator dafür, dass die Zeit an Tempo zugelegt hat. Und zwar gewaltig. Als ich vorgestern das 24. Türchen geöffnet habe, fühlte sich das richtig merkwürdig an. Denn ich hatte das Gefühl, dass ich das erste Türchen doch erst gestern aufgemacht habe.

Wie süßer Weißwein zu einer heiteren Erinnerung wurde

Süßer Weißwein ist auch so ein Kapitel in meinem weihnachtlichen Erinnerungsschatz. Denn ich war ein neugieriges Kind und Genüssen nicht abgeneigt. So trug es sich also zu, als ich im ersten oder zweiten Schuljahr war, dass meine Mutter im Wohnzimmer den Tisch fürs festliche Heilig-Abend-Essen deckte und mein Vater die dazugehörige Flasche Wein schon mal entkorkte. Dann gingen beide Eltern in die Küche, um noch irgend etwas vorzubereiten. Ich blieb im Wohnzimmer bei Weihnachtsbaum und Geschenken – und bei der geöffneten Flasche.

Da habe ich mir dann versuchsweise ein Gläschen eingeschenkt und probiert. Irgendwas musste ja dran sein, wenn die Erwachsenen zu besonderen Gelegenheiten gern Wein tranken. Tatsächlich fand ich ihn lecker, trank das Glas leer und schenkte mir wohl auch noch mal nach. Meine Eltern haben jahrelang von den Heiligen Abend erzählt, an dem ich sinnlos kichernd an meinem Papa gehangen habe und gar nicht mehr runter wollte von seinem Schoß.
Wie es mir am nächsten Tag ging, ist nicht überliefert.

Das war unsere erste Krippe. Papa hat die Figuren aus Gips geformt und bemalt und den Stall gebaut. Das Jesuskind wurde immer erst am Heiligen Abend hineingelegt. Erst nach vielen Jahren ersetzten meine Eltern die Krippe gegen eine andere mit vielen Holzfiguren.

Am Heiligen Abend kam die Mäusepolizei

Einer der ersten Kinobesuche, an den ich mich erinnere, fand ebenfalls Weihnachten statt. Ich bin mir sogar ziemlich sicher, dass es am Heiligen Abend war, eine Vorstellung am Vormittag oder am frühen Nachmittag. Meine Eltern wollten mir wohl die Wartezeit vertreiben, und mein Vater, der Zeichentrickfilme liebte, freute sich mindestens genau so wie ich über „Bernard und Bianca – die Mäusepolizeit“. Die süßen Mäuse, der tollpatschige Albatros, die böse Medusa mit den roten Haaren – ein herrliches Vergnügen war das!

Ich sehe heute noch vor mir, wie wir von dem recht leeren Parkplatz zum Kino hinübergingen, an einem grauen, milden, schneelosen Tag. Tatsächlich gilt der Heiligabend 1977 noch immer als der mildeste seit Beginn der Wetteraufzeichnungen. Das Thermometer kletterte im Bergischen Land auf 16 Grad, habe ich gerade auf einer Internetseite von Kachelmannwetter gelesen. Jedenfalls hat der Film uns Spaß gemacht, und ich mag Zeichentrickfilme genauso gern wie der Papa. Übrigens gilt das nur für die alten gezeichneten Trickfilme. Ich mag altmodisch, unverbesserlich und vielleicht auch irgendwie abgehängt sein – aber in den Animationsfilmen der neuen Zeit finde ich den Charme einfach nicht. Vielleicht ist er ja irgendwo unter der ganzen Perfektion begraben.

Das Geheimnisvolle verschwand, das Besondere blieb

Zum Ende der Kindheit hin löste sich der Schleier des Geheimnisvollen im Advent behutsam auf, doch das Besondere blieb, dieses Hinleben auf das Weihnachtsfest. Wichtig war immer das möglichst lange und ausgiebige Essen am Heiligen Abend. Oft haben wir Fondue gemacht, da konnten wir den ganzen Abend erzählen und dabei gemächlich alles aufessen. Gefreut habe ich mich auch immer auf den Besuch bei den Großeltern. Ich fand es schön, bei ihnen im Wohnzimmer zu sitzen und zu plaudern. Die Oma saß immer mir gegenüber auf dem Sofa neben dem Kachelofen. Der Opa auf seinen Sessel rechts von mir. Besonders spannend fand ich es, wenn sie von früher erzählten. Aber das ist ein anderes, ganz langes Kapitel, das ich ein andermal schreiben möchte.

Unsere Familie kennt nur eine Richtung

Ralf und ich haben keine Geschwister. Es gibt Onkel und Tanten, Cousinen und Cousins, aber unsere Kernfamilien sind klein. Außerdem haben wir keine Kinder. Wir haben Kinder weder geplant noch verhindert. Wir haben einfach keine und sind deshalb nicht traurig. Ein Leben ohne nachfolgende Generationen ist anders als eines, in dem erst Kinder und dann womöglich Enkel durchs Haus toben, älter werden und einen ein Stück weit mitnehmen in ihre Kindheit und Jugendzeit. Wir sehen keine leuchtenden Kinderaugen unter dem Weihnachtsbaum, und wir müssen uns nicht mit Teenagern auseinandersetzen, die möglicherweise alles anders machen möchten als wir. Zum Glück haben wir trotzdem Kontakt zu jungen Menschen, und das freut uns. Aber unsere eigene Familie kennt nur eine Richtung: die ins Alter.

Seit Ralf und ich uns kennen, haben wir den Heiligen Abend zusammen verbracht. Das sind jetzt zwanzig Jahre. Es gab also kein „Driving Home for Chrismas“ mehr. Manchmal musste ich Weihnachten auch in der Redaktion arbeiten, so dass wir zu den Feiertagen gar nicht wegfahren konnten. Wohin hätten wir auch fahren sollen? Trennen wollten wir uns nicht. Meine Eltern lebten in Nordrhein-Westfalen, seine in Spanien.

Fröhliche Feste mit der Weihnachtsfrau – und mit Amy Winehouse

2006 sind wir dann in Salzwedel in ein 400 Jahre altes Fachwerkhaus gezogen. Dort gab es genug Zimmer, um beide Elternpaare zu beherbergen. Und ich hatte an Weihnachten frei. Da haben wir zum ersten Mal das Fest für alle zusammen ausgerichtet. Es wurden schöne und lustige Tage mit einem mehrgängigen Festessen am Heiligen Abend bei uns zuhause, mit Restaurantbesuchen, Spaziergängen, Spieleabenden und noch mehr an Vergnügungen. Irgendwann in den 90-er Jahren hatte ich bei irgendeinem Pressetermin eine Weihnachtsmütze geschenkt bekommen. Die holte ich an diesem ersten gemeinsamen Heiligen Abend aus einer Laune heraus hervor und fing an, die Weihnachtsgeschenke zu verteilen.

In den Jahren danach wollte mein Schwiegervater Fred immer die „Weihnachtsfrau“ haben. Deshalb habe ich mir immer eine andere kleine Show ausgedacht und mit besagter Mütze und allen möglichen Sprüchen Geschenke verteilt. Dazu lief übrigens jahrelang immer dieselbe CD: Back to Black von Amy Whinehouse, und zwar die Bonus-CD. Los ging’s immer mit dem Song „Cupid“. Na ja, da geht’s ja um Amors Pfeil, und mit Weihnachten hat das so gar nichts zu tun. Aber man kann super drauf tanzen und mit der Mütze wackeln 🙂

Diese lustigen Weihnachtsfeste mit unseren vier Eltern haben uns allen Spaß gemacht. Erst in Salzwedel, dann hier in Wolgast und einmal, als Ralf und ich mitten im Umzug steckten, bei meinen Schwiegereltern in Ziemitz auf Usedom. Weite Wege hatten wir da nicht mehr, denn unsere Eltern sind ja zu uns an die Ostsee gezogen.

Unser Weihnachten ist immer kleiner geworden

Dann ließen die Kräfte der Eltern nach. Mein Schwiegervater wurde schwer krank und konnte nicht mehr teilhaben. Auch meine Eltern haben das nicht mehr geschafft. Unser Weihnachten ist immer kleiner geworden. Mittlerweile kommt am Heiligen Abend nur noch Ralfs Mutter Irmi zu uns. Unsere Väter sind nicht mehr da, und meine Mama würde, auch ohne Corona, einen ganzen Abend bei uns nicht mehr durchstehen. Immerhin durfte ich sie am 24. Dezember nach Wochen endlich wieder für eine Stunde besuchen.

Wo ist nur der alte Zauber?

In dieser Adventszeit habe ich mich oft gefragt, was aus dem alten Zauber geworden ist. Ich konnte ihn nicht mehr fühlen. Da waren viele Erinnerungen, Melancholie vor allem – aber kein Zauber mehr. Dann, in der letzten Woche vor Weihnachten, fing ich doch noch an, mich auf das Fest zu freuen. Wir hatten dann auch tatsächlich einen schönen Heiligen Abend, Ralf und Irmi und ich. Wir haben lecker Raclette gegessen und sogar Gitarre und Bass gespielt und gesungen. Und Irmi hat das alles heldenhaft ertragen 😉
Auch ohne Corona wäre unser Fest nicht größer gewesen; nur die Adventszeit hätten wir mit vielen Aktivitäten ausgefüllt.
Die Weihnachtsfrau ist übrigens vor Jahren schon mit Fred gegangen.

Das wünsche ich mir

Wisst ihr, was ich mir für die Zukunft wünsche? Ein fröhliches Weihnachtsfest mit Freunden, egal, ob sie zur Familie gehören oder nicht. Mit einem endlos langen leckeren Essen, mit Musik, ein paar Geschenken, mit einem Berg an selbstgebackenen Plätzchen, mit viel Gelächter und unbedingt auch mit einer Ahnung des alten, ganz besonderen Weihnachtsgefühls.

Ein kleiner Abschied, irgendwie

Als ich vierzehn oder fünfzehn Jahre alt war, haben meine Mutter und ich uns in der Adventszeit einen schönen Tag in Wuppertal gemacht. Wir sind von Remscheid aus mit dem Zug nach Elberfeld gefahren und dort über den Weihnachtsmarkt und durch die Geschäfte geschlendert. Als wir am Nachmittag in Elberfeld auf dem Bahnsteig standen und auf den Zug nach Hause warteten, begann der Himmel zu brennen. Ich weiß noch, wie wir dort auf dem grauen Bahnhof standen und in dieses wunderbare Rot schauten, die Farbenpracht und die Schönheit im Spiel der Wolken. „Das Christkind backt Plätzchen“, sagte die Mami. Es war vielleicht das letzte Mal, dass sie mir das so sagte, als wäre ich noch immer die kleine, herumhopsende Katja mit den lustigen Zöpfen.

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2 Kommentare

  1. Wunderschön Katja. Wenn ich Deine Zeilen lese, läuft ein kleiner Film vor mir ab. Vielen Dank dafür.
    Joe
    PS. Ich wußte gar nicht, daß Du Amy-Fan bist 😉

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